Essen. Zum Abschied beklagt der Essener IHK-Chef Gerald Püchel die Deindustrialisierung des Ruhrgebiets und den Hang zum Jammern.

13 Jahre lang stand Gerald Püchel als Hauptgeschäftsführer an der Spitze der Industrie- und Handelskammer Essen, Oberhausen und Mülheim. Zum 1. Oktober tritt der streitbare IHK-Lenker in den Ruhestand. Zum Abschied ein Gespräch auf seine Sicht auf das Ruhrgebiet und warum er zur Not Landwirten Grundstücke abkaufen würde, um Industrieunternehmen anzusiedeln.

Sie sind bekannt dafür, nie ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Hat man auch auf Sie gehört in über 30 Jahren bei der IHK?

Gerald Püchel: Natürlich hat man manchmal auf mich gehört. Aber nicht bei den entscheidenden Fragen: Die A 52 ist in Essen nicht weitergebaut. Und ich habe vergeblich darauf gepocht, dass mehr Industriebetriebe im Ruhrgebiet angesiedelt werden. Seit dem Jahr 2000 ist die Zahl der Industriearbeitsplätze in der Region um 35,1 Prozent geschrumpft. Wir erleben einen schleichenden Bedeutungsverlust der Industrie.

Dafür haben die Gesundheits- und Recyclingwirtschaft aufgeholt.

Püchel: Das stimmt. Ich kämpfe aber für Industriearbeitsplätze, weil die Industrie die Mutter aller Arbeitsplätze ist. Von ihr hängen zahllose Stellen in anderen Wirtschaftszweigen ab.

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Dem Ruhrgebiet fehlen doch aber die Flächen, um Industrie anzusiedeln.

Püchel: Das ist der Punkt. Der Bergbau hat sich vor Jahren zurückgezogen, hat seine Flächen aber lange aus bergrechtlichen Gründen nicht freigegeben. Die Kommunen ihrerseits haben auch keine Flächen für Industriebetriebe ausgewiesen. Deshalb ist das Ruhrgebiet jetzt bei größeren Flächen leergefegt. Interessierte Unternehmen aus dem Märkischen Kreis und aus dem Sauerland haben keine Chance, sich bei uns auszudehnen. Wir würden sie mit Kusshand nehmen.

Seit Jahrzehnten wird gefordert, dass Industriebrachen saniert werden. Warum passiert da nichts?

Püchel: Weil die Kommunen die Altlasten aus eigener Kraft nicht wegschaffen können. Man weiß doch gar nicht, was da alles im Boden lauert. Deshalb braucht es Unterstützung von Bund und Land.

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Die lässt aber auf sich warten. Was schlagen Sie stattdessen vor?

Püchel: Wenn sich nichts bewegt, müssen wir Bauern landwirtschaftlich genutzte Flächen abkaufen. Wir können uns doch nicht mit einer Sockelarbeitslosigkeit zwischen acht bis zwölf Prozent im Ruhrgebiet zufriedengeben.

Glauben Sie, dass Politik da mitgehen wird?

Püchel: Die Wählerinnen und Wähler würden Politik für derartige Entscheidungen vermutlich abstrafen. Im Ruhrgebiet gibt es keine Malocher-Mentalität mehr. Es wird viel mehr gejammert. Das finde ich erschreckend.

Warum gelingt es den Städten an der Rheinschiene, aktiv Unternehmen anzuwerben?

Püchel: Düsseldorf hat mehr Industrie als Essen. Die Landeshauptstadt pflegt ihre produzierenden Unternehmen und nimmt sie nicht als Problem wahr.

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Dafür hat sich das Ruhrgebiet zum Hotspot für Logistik entwickelt, die noch mehr Verkehr erzeugt. Halten Sie das für richtig?

Püchel: Gegen den Vormarsch der Logistikunternehmen kann man nichts machen. Darüber stimmen die Verbraucherinnen und Verbraucher ab, die an ihrem Computer im Onlinehandel bestellen. Wir erleben, dass die Lagerhaltung auf die Straßen verlagert wird. Das ist nicht aufzuhalten. Logistikzentren aufs platte Land zu bauen, würde noch mehr Verkehr erzeugen.

Wird das Ruhrgebiet seine Verkehrsprobleme in den Griff bekommen?

Püchel: Der Verkehr wird weiter wachsen, im wesentlichen auf der Straße. Deshalb müssen Brücken rasch saniert werden. Wir brauchen den Ausbau der B1 in Dortmund – und noch einmal – die 7,1 Kilometer A 52 in Essen sind unverzichtbar.

Hand aufs Herz – ist das Ruhrgebiet mehr als ein Wirtschaftsraum und eine Gebietskörperschaft?

Püchel: Ich glaube schon. Wenn Duisburger oder Bochumer außerhalb Urlaub machen, erzählen Sie, dass sie aus dem Ruhrgebiet kommen. Da schwingt dann auch eine Portion Stolz mit. Und wenn das Ruhrgebiet mal wieder kritisiert wird, ärgert das Mülheimer und Herner gleichermaßen. Die Marketingkampagne „Stadt der Städte“ macht der Regionalverband Ruhr gut.

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Bei den Revierstädten gilt die Zusammenarbeit noch als ausbaufähig. Stimmt der Eindruck, dass die sechs Industrie- und Handelskammern im Ruhrgebiet in den vergangenen Jahren enger zusammengerückt sind?

Püchel: Ja. Austausch und Kooperation sind enger geworden. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass wir das Ruhrgebiet vernünftig darstellen müssen. Die Zeiten werden medial, aber auch gegenüber Politik und Ministerien härter. Wir als Kammern haben enorm viel Arbeit in die Ruhrkonferenz gesteckt. Bislang leider nicht mit dem Erfolg, den wir uns gewünscht hätten. Wir bleiben aber am Ball.

Schmerzt Sie der immer wieder erhobene Vorwurf, IHKs seien verstaubt?

Püchel: Wer uns kennt, hat den Eindruck ganz und gar nicht. Das wird von Leuten in die Welt gesetzt, die uns nicht in Anspruch nehmen. Themen wie Ausbildung, Prüfungen und Fortbildung sind gesetzliche Pflichtaufgaben. Man kann das auch als Service für unsere Mitgliedsunternehmen bezeichnen. Wir geben Stellungnahmen zu Bauleitplänen ab. Zum Regionalplan haben wir dem RVR mehr als 1000 Seiten geschickt. Leider hat sich die Verabschiedung erheblich verzögert.

Die Ausbildung lag Ihnen immer besonders am Herzen. Zu Ihrem Abschied ist der Ausbildungsmarkt in der Krise.

Püchel: Deshalb müssen wir die Zahlen unbedingt wieder in die Höhe bringen. Wir haben reichlich Stellen, aber es fehlen Bewerberinnen und Bewerber. Ich verspreche mir viel von Präsenz-Ausbildungsmessen, die nach dem Lockdown wieder möglich sein werden. Die digitalen Formate haben sich nicht bewährt. Der Mensch ist durch nichts zu ersetzen.