Hagen. Nach der Flut: Es sieht in vielen Betrieben wieder besser aus. Aber der Schein trügt. „Es ist alles kaputt“, sagt der Deutschlandchef von DEW.

Die Deutschen Edelstahlwerke fertigen in Hagen Spezialstahllösungen für verschiedenste Branchen. Produkte, die in der Luftfahrt, zum Bau von Windenergieanlagen oder in der Chemieindustrie gefragt sind. Und nicht zuletzt in der Autoindustrie. Die Nachfrage ist ungebrochen hoch. Die Geschäftszahlen des 2. Quartals 2021 untermauerten den positiven Trend, der für das Hagener Werk mit rund 400 Beschäftigten über Nacht endete. Die Juliflut hat Dreiviertel des Standortes überschwemmt und seitdem lahmgelegt. „Es sieht jetzt wieder gut aus, aber es ist trotzdem alles kaputt“, sagt Jürgen Alex, Deutschlandchef von DEW. Hagen wird in absehbarer Zeit nicht liefern.

Schlamm und Sand in jeder Ritze

Genau sieben Wochen ist es her, dass Dauerregen in der Region Hagen und Märkischer Kreis ebenso wie in der Eifel und an der Ahr für eine Katastrophe ungeahnten Ausmaßes sorgte. Während sich an der Ahr eine Tragödie abspielte, die zahlreiche Menschenleben kostete, sind in der Region Hagen vor allem enorme wirtschaftliche Schäden entstanden – im Privaten wie in der Wirtschaft. Die Produktion der Deutschen Edelstahlwerke ist nur eines von vielen Unternehmen, die betroffen sind, die sich als systemrelevant für den Erhalt von Lieferketten entpuppen und auf die der Druck ihrer Kunden von Tag zu Tag steigt.

„Es gibt tatsächlich Kunden, die ins Werk kommen und es nicht glauben, aber wir sind sicher, dass wir unser Herzstück, das Walzwerk, im September nicht wieder anfahren werden“, bedauert Jürgen Alex.

Tatsächlich ist innerhalb weniger Stunden ein Großteil der Produktion abgesoffen, ohne dass es eine Chance gab, dies zu verhindern.

Auf voller Länge des Werkes schlängelt sich die Ennepe am Standort entlang. Normalerweise rund fünf Meter unterhalb der Hallen und zusätzlich abgeschirmt durch eine knapp ein Meter hohe Mauer. Am Mittag des 13. Juli haben DEW-Mitarbeiter noch einen Zollstock Richtung Fluss gehalten, dessen Pegel kontinuierlich stieg: Zwei Meter Luft waren da noch. Um 18 Uhr war die Luft fort, um Mitternacht die Hallen zum erweiterten Flussbett geworden.

Immerhin konnten die Maschinen noch stromlos geschaltet werden. Ansonsten war man zum Zusehen verdammt, wie Wasser und – noch schlimmer – Schlamm und Sand bis in die letzte Ritze der Maschinen und die Elektronik eindrangen. Bis zu anderthalb Meter hoch. Der Schaden dürfte im sehr hohen zweistelligen Millionenbereich liegen. Selbst für ein Unternehmen wie DEW, das zur Schweizer Swiss Steel Gruppe (ehemals Schmolz+Bickenbach) gehört und zu einem guten Teil versichert ist, ist es eine Extremsituation.

Hunderte Motoren wurden im Werk der Deutschen Edelstahlwerke (DEW) in Hagen ausgebaut, um sie zu reparieren und so schneller wieder produzieren zu können.
Hunderte Motoren wurden im Werk der Deutschen Edelstahlwerke (DEW) in Hagen ausgebaut, um sie zu reparieren und so schneller wieder produzieren zu können. © WP - Jens Helmecke | Jens Helmecke

„Wir müssen ein ganzes Werk wieder neu aufbauen“, sagt Thomas Möller, Chef am Standort Hagen. Seit Mitte Juli ist eine Spezialfirma mit rund 200 Experten zusammen mit der Belegschaft im Einsatz, um das Werk wieder frei von Schlamm zu bekommen und um zu retten, was zu retten ist. Corona? Ein zusätzliches Problem. Hunderte, zum Teil Jahrzehnte alte Motoren werden derzeit wieder fit gemacht, weil die Anschaffung von neuen Spezialmotoren deutlich länger dauern würde und einige Ersatzteile derzeit auch gar nicht zu bekommen sind.

Es wird seit Wochen viel improvisiert im DEW-Werk Hagen. „Es ist ja kein normales Instandhaltungsprojekt. Hier ist immer noch Krisenstab“, sagt Werksleiter Möller, zwar professionell ruhig, aber wohlwissend, um was es geht. Stahl in der Qualität wie ihn DEW liefert gibt es nicht an jeder Ecke. Er wird beispielsweise von Autozulieferern zur Fertigung von Motorenventilen benötigt. „Kein Ventil, kein Motor. Unseren Kunden droht der Bandstillstand“, beschreibt Möller ein Problem, das viele der hochspezialisierten Unternehmen im Raum Hagen gerade umtreibt.

Hoffen auf den Wiederaufbaufonds

Für einen Teil der Produktion haben die Hagener dank ihrer Konzernzugehörigkeit alternative Prozessrouten gefunden. Aus dem Siegener DEW-Stahlwerk wird Halbzeug momentan in – schon gut ausgelastete – Schwesterwerke in der Schweiz und Frankreich transportiert, um dort den Draht zu ziehen, der dann in Hagen, wo Beize und Blankbetrieb von der Flut verschont blieben, endbearbeitet wird.

Auch wenn das Werksgelände heute beinahe so aussieht als wäre nichts gewesen, „wird es Monate dauern, bis wir den Auftragsrückstand abgearbeitet haben“, sagt DEW-Chef Jürgen Alex, der auf Einigung mit den rund 500 Kunden hofft – und auf den 30 Milliarden Euro umfassenden Wiederaufbaufonds, denn „jede Versicherung hat einen Deckel“. Und der liegt laut DEW-Chef klar unterhalb der tatsächlichen Schäden.

Wiederaufbaufonds

Im Raum Hagen und dem Märkischen Kreis dürften viele von der Juliflut betroffenen Unternehmen auf den Wiederaufbaufonds in Höhe von 30 Milliarden Euro hoffen.

Am 7. September berät der Bundestag noch einmal in 2.und 3. Lesung. Am 10. September muss dann noch der Bundesrat zustimmen, damit Mittel fließen können.