Essen. OVG Münster setzt Handels-Beschränkungen außer Kraft. Media Markt hofft auf „Signalwirkung“, Sinn öffnet. Nun streicht das Land die Ausnahmen.

Der Einzelhandel durfte nach dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Münster nur kurz neue Hoffnung schöpfen: Es hatte alle wesentlichen Beschränkungen in NRW vorläufig außer Kraft gesetzt (Aktenzeichen: 13 B 252/21.NE). Demnach konnten alle Einzelhändler ab sofort ohne Terminvergabe und Kundenbegrenzung nach Ladenfläche ihre Geschäfte wieder öffnen, hieß es am späten Vormittag. Die Modekette Sinn etwa reagierte sofort und sperrte auf. Allerdings betonten die Richter, das Land könne kurzfristig eine neue Verordnung erlassen. Das tat das Landesgesundheitsministerium noch am Nachmittag.

Nun gelten die Beschränkungen für alle, was für Buchhändler, Schreibwarenhändler und Gartencenter eine Verschärfung bedeutet. Sie durften ab dem 8. März regulär für den Publikumsverkehr öffnen, damit ist jetzt schon wieder Schluss. „Wir haben gerade diskutiert, wie es gehen könnte: Click & Collect an der einen Tür, 15-Minuten-Termine durch die andere Tür. Wobei das schon völlig absurd ist, einen Termin für eine Geburtstagskarte zu machen“, sagte Petra Ostermann, die mit ihrem Bruder Axel die Papeterie Petersen für Bücher und Schreibwaren in Essen führt. Sie wollen dazu beitragen, die Pandemie zu bekämpfen, betont sie, aber: „Wir wollen auch unseren Laden behalten.“

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Geklagt und in einem wesentlichen Punkt Recht bekommen hat eine Filiale der Elektronikmarktkette Media Markt. Sie hoffte nach der Entscheidung, dass die Beschränkungen auch in den anderen Bundesländern fallen. In der vergangenen Woche hatte bereits das OVG Saarlouis die Beschränkungen im Saarland aufgehoben. Nach dem juristischen Sieg im bevölkerungsreichsten Bundesland sagte ein Sprecher der Unternehmensgruppe Media Markt Saturn unserer Redaktion: „Wir begrüßen die Entscheidung und wir setzen darauf, dass sie über Nordrhein-Westfalen hinaus Signalwirkung haben wird.“

Ungleichbehandlung nicht sachlich begründbar

Der Elektronikhändler setzte sich insbesondere mit seiner Klage gegen die Ungleichbehandlung der verschiedenen Handelsbereiche durch. Man wolle die gleichen Bedingungen haben, die für Baumärkte oder Blumenläden gelten, hatte Media Markt seine Klage beim OVG begründet. Die Richter fanden tatsächlich keinen plausiblen Grund dafür, dass etwa Gartencenter und nun auch Buchhändler und Schreibwarengeschäfte ohne Terminvergabe öffnen dürfen, andere aber nicht.

Zudem dürfen die meisten Händler, auch Elektronikketten, nur einen Kunden je 40 Quadratmeter Verkaufsfläche einlassen, also viermal so wenige wie etwa Supermärkte und Blumenläden. Das verstößt nach Auffassung des OVG gegen den verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz. Es hat daher die geltenden Regelungen landesweit „vorläufig außer Vollzug gesetzt“, wie es am Montag mitteilte. Und stellte klar: „Das bedeutet, dass ab so­fort im gesamten Einzelhandel in Nordrhein-Westfalen keine Kundenbegrenzung pro Quadratmeter mehr gilt und das Erfordernis der Terminbuchung entfällt.“

Sinn-Chef sauer: Corona-Politik „untragbar“

Die Hagener Modekette Sinn nahm das zum Anlass, sofort zu öffnen, wie Unternehmenschef Friedrich Göbel unserer Redaktion sagte. Gemerkt habe man davon aber nichts, „das muss sich zuerst herumsprechen“. Doch nur Stunden später kam das Land mit einer neuen Verordnung, die für Modehändler alles beim Alten belässt. „Sobald eine neue Verordnung veröffentlicht ist, halten wir uns daran – und warten auf das nächste Gerichtsurteil“, sagte Göbel. Er halte die aktuelle Corona-Politik für „absolut untragbar und nicht mehr nachvollziehbar“. Die Regierung sei offenkundig nicht mehr Herr der Lage.

Das Hin und Her macht auch kleine Händler mürbe. „Ich muss an drei, vier Stellen nachsehen, um mich zu informieren. Bei den ganzen Paragrafen und Gesetzestexten bekomme ich ein Hörnchen, das ist schwer nachzuvollziehen“, schimpft Tom Lahm, der in Essen E-Roller verkauft. Auch die Kunden seien verunsichert, wenn sie seinen Laden betreten. „Die Regelegungen gehen an der Lebensrealität vorbei“, meint der Betreiber von „Mister Scooter“. Aus der Politik kämen keine neuen Ideen mehr, „und keiner übernimmt Verantwortung – wenn ich als Unternehmer so arbeiten würde, wäre ich schon pleite“, sagt Lahm.

Das Hin und Her macht Händler mürbe

„Nach der Entscheidung des Gerichts habe ich eine E-Mail der Stadt bekommen, was ich jetzt darf und was nicht. Danach habe ich erstmal zwei große Plakate mit Regeln wie der Terminvergabe abgehängt“, erzählt Norman Bärenbrinker, Inhaber des Essener Biomode- und Kunstladens Kommabei. Nicht nur bei ihm erweist sich der Verkauf nach Termin nicht eben als Umsatzbringer. Nun, da die Öffnungsperspektive nach wenigen Stunden wieder dahin ist, bleibt ihm nur dies: „Ich meditiere weiter fleißig, um mich nicht so sehr aufzuregen.“

Zumal die Runde der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel keine schnelle Besserung verheißt. Dass die Beschränkungen insgesamt unverhältnismäßig seien, wie Media Markt in der Klagebegründung angeführt hatte, sieht indes auch das OVG Münster nicht. Die Beschränkung der Grundrechte der Einzelhändler sei angesichts der gravierenden Folgen, die ein erneuter unkontrollierter Anstieg der Neuansteckungen für Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen hätte, „voraussichtlich gerechtfertigt“, so das OVG. Zur Pandemiebekämpfung bestehe durchaus ein „Gestaltungsspielraum des Verordnungsgebers“, der sich in einer komplexen Entscheidungssituation befinde und nur mit Prognosen zu den Auswirkungen von Beschränkungen und Lockerungen arbeiten könne.

Beschränkungen gelten jetzt für alle

Es sei daher zulässig, „schrittweise zu lockern, wobei es zwangsläufig zu Ungleichbehandlungen verschiedener Bereiche“ komme. Supermärkten wegen der Versorgung der Bevölkerung mehr Spielräume zu geben als anderen, sei vertretbar. Was die Richter monieren, ist die Ungleichbehandlung verschiedener Handelsbereiche, die nicht den täglichen Bedarf decken. Das könne die Landesregierung kurzfristig mit einer neuen Verordnung korrigieren.

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Die kam am Nachmittag – mit einer bösen Überraschung für alle, die bisher ohne Terminvergabe öffnen durften: Buchhändler, Gartencenter und Schreibwarenläden müssen ab sofort auch Termine vergeben und dürfen nur einen Kunden je 40 Quadratmeter in ihre Läden lassen. „Die Landesregierung setzt die Maßgaben des Gerichts konsequent um“, erklärte Gesundheitsminister Karl Josef Laumann (CDU).

Handelsverband sieht sich durch OVG bestätigt

Der Handelsverband NRW hatte damit gerechnet, betont gleichwohl, das OVG bestätige seine Forderung nach einer diskriminierungsfreien Öffnungsperspektive für den ganzen Handel. „Was wir brauchen, ist ein Strategiewechsel bei der Pandemiebekämpfung. Der Handel ist und war nie ein Infektionsherd. Inzidenzwerte dürfen nicht das einzige Beurteilungskriterium für einzuleitende Maßnahmen sein“, so der Handelsverband. Denn für die meisten Händler lohnt sich die Öffnung mit Termin kaum.