Essen. Autozulieferer und Maschinenbauer klagen über lange Lieferzeiten von Stahlprodukten. Das bremse den Aufschwung. Thyssenkrupp: Werke ausgelastet.
Dass Europas Stahlindustrie viel mehr kochen als verkaufen kann, ist ihr großes Problem. Die Überkapazitäten und die günstige Konkurrenz aus Asien setzen der Branche seit Jahren mächtig zu. Vor diesem Hintergrund erscheint es wie aus der Zeit gefallen, worüber sich die Autozulieferer und andere stahlverarbeitende Industrien derzeit beklagen: Lieferengpässe, Verzögerungen und zu geringe Mengen auf dem heimischen Stahlmarkt. Wie passt das zusammen?
„Die Stahllager sind leer“
„Die Stahllager sind leer. Das Wiederhochfahren der Produktion verlief holprig“, klagt der Industrieverband Blechumformung (IBU) in Hagen, der für 240 stahlverarbeitende Unternehmen spricht, darunter viele aus dem Raum Dortmund, Südwestfalen und dem Sauerland. Die Stahlkonzerne produzierten noch immer nicht so viel, wie nachgefragt werde und reduzierten „vertraglich zugesicherte“ Mengen. Die Wertschöpfungskette sei kurz vor dem Zerreißen. Hinzu komme eine weltweite Stahlknappheit, die zu extrem hohen Preisen führe. Dumpingimporte sind derzeit kein Thema in der Branche.
Produktion zieht wieder an
Die Stahlproduktion in Deutschland ist im vergangenen Jahr um rund zehn Prozent auf 35.600 Millionen Tonnen gesunken.
Zum Jahresende hin produzierten die heimischen Stahlkocher aber mehr als vor Beginn der Corona-Pandemie: Die Dezember-Produktion lag mit 3,1 Millionen Tonnen um gut zehn Prozent über dem Vorjahresmonat.
Als mögliche Folge fehlender Stahlprodukte warnt IBU-Geschäftsführer Bernhard Jacobs nun vor Produktionsstopps in der verarbeitenden Industrie, besonders betroffen seien Autozulieferer und Maschinenbauer, sagte er unserer Redaktion. Eigentlich könnten sie jetzt wieder loslegen, vor allem aus der Autoindustrie ziehe die Nachfrage an. Die jetzt nicht bedienen zu können, bedeute „eine Vollbremsung für den wirtschaftlichen Erholungsprozess“, warnt Jacobs. Viele Zulieferer seien schon nicht mehr in der Lage, ihre Kunden termingerecht zu bedienen.
Stahlindustrie ist träger als Zulieferer
Was offenkundig nicht zusammenpasst, sind die Reaktionszeiten von Zulieferern, deren Geschäft mit neuen Aufträgen praktisch über Nacht wieder anspringen kann, und der Schwerindustrie. Nachdem die Autoindustrie im Frühjahr europaweit ihre Produktion nahezu komplett einstellte, fuhren auch die hiesigen Stahlkonzerne einen Hochofen und eine Walzstraße nach der anderen herunter, schickten ihre Beschäftigten in Kurzarbeit. Beim Hochfahren passten dann Aufträge und Kapazitäten nicht zusammen.
Deutschlands größtem Stahlkonzern Thyssenkrupp erging es wie seinen Konkurrenten: „Die Kapazitäten konnten nicht so schnell wieder hochgefahren werden wie die Nachfrage stieg. Dazu kommen kurzfristige Änderungen der Auftragsstruktur, die in der Stahlindustrie eine enorme Komplexität verursachen, weil wir nicht auf Knopfdruck an- und abschalten können“, teilte Thyssenkrupp Steel Europe auf Anfrage mit. Aktuell sei die Auslastung der Thyssenkrupp-Stahlwerke aber sehr gut.
Stahlpreis hat sich fast verdoppelt
Im Kern bestätigt das Duisburger Unternehmen die von der Zulieferindustrie beklagte Lage: „Wir sehen derzeit einen globalen Nachfrageüberhang mit entsprechenden Auswirkungen auf die Preise.“ Nach dem Tiefpunkt im vergangenen Sommer mit rund 400 Euro für eine Tonne Stahl vom Warmband haben sich die Preise auf aktuell 700 bis 800 Euro fast verdoppelt. Den unausgesprochenen Vorwurf, die Stahlindustrie habe wenig Lust, sich die Preise mit höheren Produktionsmengen wieder kaputt zu machen, lässt Thyssenkrupp nicht gelten. „Die Preise sind nicht nur bei uns gestiegen, sondern weltweit, vor allem in den USA.“ Für die Hersteller sei der Preisanstieg zudem „bitter nötig“ gewesen, um rentabel arbeiten zu können. Schließlich drückten die ebenfalls stark gestiegenen Rohstoffpreise etwa für Erz auf die Rendite.
Auch interessant
Die Verbände der stahlverarbeitenden Industrie kritisieren auch die EU für ihre Abwehrmaßnahmen gegen Stahlimporte. Die passten nicht mehr in eine Phase, da der Stahl dringend für den einsetzenden Aufschwung der Metallindustrie gebraucht werde. Noch unverständlicher sei es, dass die Europäische Kommission sogar neue Zölle erlassen habe, unlängst gegen Stahlimporte aus der Türkei. „Das forciert die Engpässe weiter“, sagt IBU-Geschäftsführer Jacobs. Dass die Politik die heimischen Stahlindustrie schütze, sei ja verständlich, sagt er, „sie sollte dabei aber nicht jene Industrien vergessen, die auf bezahlbaren und verfügbaren Stahl angewiesen sind“.
Kritik an „Safeguard“-Zöllen der EU
Brüssel reagiert vor allem auf die sehr harten Einfuhrzölle der USA. Um zu verhindern, dass zu viel überschüssiger Stahl den europäischen Markt flutet, werden für bestimmte Länder Quoten erlassen, nach deren Überschreitung Zölle anfallen. Diese so genannten „Safeguards“ würden aktuell aber gar nicht zur Anwendung kommen, betont die Wirtschaftsvereinigung Stahl. So sei das aktuelle Safeguard-Quartal schon halb vorbei, die Quoten aber noch nicht mal zu einem Viertel erreicht. Von einer Abschottung des Marktes könne also keine Rede sein.
Der von den hiesigen Stahlkonzernen so gefürchtete weltgrößte Stahlproduzent China, zugleich auch der größte Stahlverarbeiter, hat wegen der Angebotsknappheit im vergangenen Sommer sogar kurzzeitig mehr Stahl importiert als exportiert. Auch das hat die Weltmarktpreise nach oben getrieben.
Konzerne wie Thyssenkrupp, Salzgitter und Arcelor Mittal hielten Lockerungen der Importbeschränkungen aber natürlich auch aus Eigeninteresse für falsch. „Die EU schreitet nur gegen unfaire Handelspraktiken und durch Protektionismus verursachte Verzerrungen ein, dies ist im internationalen Wettbewerb wichtig und richtig“, erklärt etwa Thyssenkrupp dazu.