Essen/Münster. Fridays-for-Future-Aktivistin Carla Reemtsma spricht über Klimaschutz in Corona-Zeiten, fordert Hilfe für grünen Stahl und attackiert die Grünen.

Die Schülerbewegung Fridays for Future ist erst zwei Jahre alt, hat den Kampf ums Klima praktisch über Nacht in die Nachrichten und auch in die Hauptversammlungen der Dax-Konzerne getragen. Einstweilen stoppen konnten sie nur die alles überlagernde Corona-Krise. Carla Reemtsma (22), die in Münster Politik und Wirtschaft studiert und Fridays in NRW angeschoben hat, sprach im Interview mit unserer Redaktion über Klimaschutz in der Pandemie, warum sie RWE den grünen Wandel nicht abkauft und warum ihr die Grünen zu bürgerlich sind.

Fridays for Future hat am vergangenen Wochenende erstmals wieder größere Demos organisiert. Braucht die Bewegung solche Massenveranstaltungen, um zu überleben?

Carla Reemtsma: Wir haben gezeigt, dass auch unter Corona-Bedingungen Massenproteste möglich sind – das war auch aus demokratischer, partizipativer Perspektive unglaublich wichtig. Und ja, ab und zu braucht es das, vor allem jetzt, um Klimagerechtigkeit wieder auf die Agenda zu setzen. Es war wichtig zu zeigen: Die Klimakrise macht auch während der Pandemie keine Pause – und deswegen kann Fridays For Future auch keine Pause machen.

Die Corona-Pandemie hat in diesem Jahr vieles überlagert, war es ein verlorenes Jahr für den Klimaschutz?

Reemtsma: Das hängt davon ab, wie wir weiter Politik in Corona-Zeiten machen. Ob die Regierung bereit ist, Klimagerechtigkeit in allen Bereichen mitzudenken oder sich weiter darauf beschränkt, in die Konjunkturpakete ein bisschen grünes Begleitprogramm zu packen. Nach wie vor wird mehr Geld in fossile als in grüne Energien gesteckt, damit zementieren wir den Status Quo. Dabei gibt es gute Beispiele aus anderen Ländern: Paris und Brüssel etwa reagieren darauf, dass die Leute in der Pandemie mehr Rad fahren, und gestalten ihre Straßen neu. Da muss auch hier mehr passieren.

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Immerhin sind im Lockdown die CO2-Emissionen gesunken, weil die Leute weniger Auto gefahren sind und die Industrie auf Sparflamme lief.

Reemtsma: Den Lockdown als etwas Positives zu sehen, wäre ganz falsch. Menschen sind gestorben, andere großen psychischen Belastungen ausgesetzt – das ist eine gesamtgesellschaftliche Krise, die es zu bekämpfen gilt. Auch sind die Emissionen nur für kurze Zeit gesunken. Nachhaltige Veränderungen etwa im Verkehrs-, Energie- oder Wirtschaftssystem hat es nicht gegeben.

Wenn Menschen um ihre Existenz bangen, geraten globale Probleme wie der Klimawandel immer in den Hintergrund. Ist das nicht zutiefst menschlich?

Reemtsma: Doch, natürlich ist es das. Von Politikern erwarten wir aber mehr, denn die Pandemie darf ihnen nicht als Ausrede dienen, andere wichtige Themen beiseite zu schieben und den Blick in die Zukunft zu verlieren. Sie hat sich auch getäuscht: Die Kommunalwahlen in NRW haben gezeigt, dass Klimaschutz für die Menschen nach wie vor ein sehr wichtiges Thema ist.

Carla Reemtsma will weiter außerparlamentarisch aktiv bleiben und nicht in die Politik wechseln. Die Grünen sind ihr zu bürgerlich.
Carla Reemtsma will weiter außerparlamentarisch aktiv bleiben und nicht in die Politik wechseln. Die Grünen sind ihr zu bürgerlich. © FUNKE Foto Services | VANESSA LEISSRING

Die Regierung hat milliardenschwere Konjunkturprogramme zur Rettung der Wirtschaft beschlossen und nimmt dafür Rekordschulden auf. Macht das Klimaaktivisten neidisch?

Reemtsma: Wir sind zu geerdet, als dass uns das überrascht hätte. Die Klimakrise können Politiker besser aussitzen als eine akute Krise, weil die Folgen erst in Jahrzehnten auf die heutige Politik zurückzuführen sein werden. Es gibt bereits heute katastrophale Klimafolgen, aber sie sind im Vergleich mit den Corona-Toten weniger sichtbar. Natürlich wäre es schön gewesen, dieselben Gelder für den Kampf gegen die Klimakrise zu mobilisieren. Zumal die Milliarden, die nun ausgegeben werden, in Zukunft für andere Dinge fehlen – und unsere Generation die Schulden zurückzahlen muss.

Der Staat hat auch Unternehmen direkt gerettet, etwa die Lufthansa. Hat Sie das geärgert?

Reemtsma: Ja, die bedingungslose Rettung der Lufthansa ist in Zeiten der Klimakrise ein Skandal. Es geht ja auch anders: Frankreich hat die Rettung der Air France an klimaschonende Bedingungen geknüpft, etwa Kurzstreckenflüge zu streichen. Dass in Deutschland weder ökologische noch soziale Vorgaben gemacht wurden, etwa der Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen, geht gar nicht. Das sind schließlich Steuergelder, die der Allgemeinheit dienen sollten.

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Fridays geht wieder auf die Straße, hat seine Aktionen den Corona-Regeln angepasst. Was halten Sie von den Anti-Corona-Demos?

Reemtsma: Sie verkörpern aufgrund ihrer Wissenschaftsleugnung das Gegenteil dessen, wofür wir stehen. Wie beim Klima hören wir auch bei Corona auf die Wissenschaft. Deswegen halten wir uns an ausgefeilte Hygiene-Konzepte mit Abstandsmarken und Masken. Aber wir wenden uns auch ganz entschieden gegen die menschenfeindlichen, teils antisemitischen Bilder, die auf diesen nach rechtsaußen hin offenen Corona-Demos propagiert werden.

„Ich bin angeblich auch Illuminatin“

Verschwörungstheorien spielen dort eine große Rolle, richten die sich auch gegen Fridays?

Reemtsma: Die gibt es, von der Einführung der Öko-Diktatur bis zur Weltverschwörung ist alles dabei. Das richtet sich meist gegen Greta Thunberg, ich bin auch angeblich Illuminatin. Aber Corona hat da vieles verdrängt, derzeit stehen andere im Fokus. Wir verschwenden auch nicht unsere Energie darauf, solche Leute überzeugen zu wollen, das wäre sinnlos.

Im rheinischen Braunkohlerevier suchen die Aktivisten von „Ende Gelände“ mit ihren Aktionen bewusst die Konfrontation mit dem Staat, mit der Polizei. Stehen Sie hinter dieser Protestform?

Reemtsma: Wir sind solidarisch mit allen Klimaaktivisten, die sich auch mit Mitteln des zivilen Ungehorsams der Klimakrise entgegen stellen. Das Versagen der Politik ist so drastisch, dass es das braucht. Auch wir greifen mit den Schulstreiks ja zu Mitteln des zivilen Ungehorsams.

Bei den Protesten gegen den Braunkohletagebau im Rheinland setzt Fridays or Future auf zivilen Ungehorsam.
Bei den Protesten gegen den Braunkohletagebau im Rheinland setzt Fridays or Future auf zivilen Ungehorsam. © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

RWE betreibt die Braunkohlereviere, baut aber gleichzeitig viele neue Windparks und will erklärtermaßen grün werden. Da tut sich doch was.

Reemtsma: Diesen Sinneswandel kaufen wir RWE nicht ab. Weil jedem klar ist, dass Kohle früher oder später nicht mehr rentabel ist, muss sich der Konzern verändern und geht notgedrungen in Richtung erneuerbarer Energien …

… was Sie doch gut finden müssten.

Reemtsma: Per sé ja. Aber es verändert nichts an den grundlegenden Geschäftspraktiken von RWE. Mit dem Kohleausstiegsgesetz sind die Konzerne happy und sonst niemand, es wurde ihnen nach dem Mund geschrieben. Und mit dem Verzögern des Kohleausstiegs blockiert RWE letztlich den Ausbau von Ökostrom. Es ist einfach nicht mehr zeitgemäß inmitten der Klimakrise, Dörfer abzubaggern und die Heimat von Menschen zu zerstören für den dreckigsten Energieträger, den wir haben. Gleichzeitig drangsaliert RWE auch Klimaktivistinnen massiv.

Klimaschutz ohne die Industrie wird aber schwierig. Wer etwa grünen Stahl will, braucht einen Stahlkonzern wie Thyssenkrupp.

Reemtsma: Wir wollen keine Deindustrialisierung, auch wenn uns das oft unterstellt wird. Wir brauchen Konzerne, die diesen Weg gehen, aber auch eine Politik, die ihnen das ermöglicht. Weil grüner Stahl noch zu teuer ist, wird das nicht ohne staatliche Hilfe funktionieren, etwa einen Grenzsteuerausgleich in Europa für klimaschädlich produzierten Importstahl. An vielen Stellen fehlen die Voraussetzungen für eine klimaschonende Umstellung auch im Mittelstand, etwa weil leistungsstarke Netze fehlen. Aber auch die Industrielobby selbst verzögert die Energiewende nach wie vor nach Kräften.

Sie schließen gerade Ihr Studium ab, können Sie sich vorstellen, in die Politik zu wechseln?

Reemtsma: Nein, es gibt ja fähige Leute in der Politik, aber es braucht diese unbequemen Stimmen von außen, diesen Druck auf alle Parteien, um ihnen aufzuzeigen, was die Gesellschaft bewegt. Keine Partei oder Institution hat gerade einen Plan für 1,5-Grad – das wird sich nur durch den Druck von außen ändern.

„Die Grünen verraten ihre Kernwerte“

Ist ein Grund dafür, dass die Grünen sich zur Volkspartei entwickeln?

Reemtsma: Auf jeden Fall. Auch die Grünen können mit ihrem Programm das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens nicht einhalten. Das ist eine bewusste politische Entscheidung, weil man bürgerlich und koalitionsfähig sein will, besonders für die CDU. Ich halte das für einen fundamentalen Fehler der Grünen, weil sie damit ihre Kernwerte verraten. Der demokratische Prozess zur Bekämpfung der Klimakrise hat bereits stattgefunden – über 190 Staaten haben sich in Paris auf das 1,5-Grad-Ziel geeinigt. Wir können also nur noch über das Wie streiten, aber nicht mehr über das Ob.

US-Präsident Trump hat das Pariser Klimaabkommen gekündigt. Ist der Ausgang der US-Wahl für den Klimaschutz nicht wichtiger als alles, was wir in Deutschland machen?

Reemtsma: Trumps Leugnung des Klimawandels ist eine Katastrophe, deshalb setzen sich die amerikanischen Aktivisten von Fridays for Future für seine Abwahl ein. Aber das entlässt Deutschland doch nicht aus seiner Verantwortung, wir sorgen immerhin für zwei Prozent der weltweiten CO2-Emissionen. Deutschland kann und muss auch aufgrund seiner wirtschaftlichen Position und seiner historischen Verantwortung vorangehen.