Essen. Wirtschaftsforscher fordern, auf den südkoreanischen Weg umzuschwenken, um das Coronavirus einzudämmen und so Menschen und Wirtschaft zu retten.

Deutschland müsste sein öffentliches Leben noch über Monate lahmlegen, umdie Ausbreitung des Coronavirusso einzudämmen, dass die Krankenhäuser nicht überlastet werden. Das würde die deutsche Wirtschaft „desaströs“ beschädigen, warnt das Essener RWI Leibniz-Institut. Die Wirtschaftsforscher fordern deshalb die Bundesregierung auf, den südkoreanischen Weg einzuschlagen mit Massentests, strikter Isolierung auch großer Gruppen und der Überwachung der Bewegungsprofile der Bürger.

RWI warnt vor einer „Flut von Insolvenzen“

RWI-Präsident Christoph M. Schmidt, bis Ende Februar noch Chef der Wirtschaftsweisen, zeigt Verständnis für die strikten Maßnahmen. Aus Mangel an Alternativen könne bisher in Deutschland nur so die Ausbreitung gebremst werden. Doch je länger die eingeschlagene Strategie mit Kontakt- und Handelsverboten verfolgt werde, desto schwerer seien die Schäden für die Wirtschaft. „Dies könnte unsere Gesellschaft durch eine Flut von Insolvenzen und Massenarbeitslosigkeit ihrer Existenzgrundlage berauben“, heißt es in einem Positionspapier des RWI mit dem Titel „Ansteckungsdynamik brechen, Gesellschaft zurück auf Normalbetrieb: Drei Voraussetzungen für großflächige Tests und gezielte Isolierung.“

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Co-Autor Boris Augurzki, Gesundheitsexperte des RWI, hat hochgerechnet, was Covid 19 in Deutschland anzurichten droht. Bei einer ungebremsten Ausbreitung des Virus wären die Kliniken binnen kürzester Zeit überfordert, nach sechs bis sieben Wochen müssten vier von fünf Intensiv-Patienten abgewiesen werden, Hunderttausende würden sterben. Die Gegenmaßnahmen seien geeignet, die Ausbreitung so zu verlangsamen, dass die Intensivbetten ausreichen. Doch selbst dann gehen die RWI-Prognosen noch immer von „rund 200.000 Covid-19-Todesfällen“ bis Oktober aus. Und dafür müsste die aktuelle Strategie „sechs bis sieben Monate in Kraft“ bleiben, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten.

Jeder Bürger soll sich testen lassen dürfen

Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI Leibniz Instituts, fordert eine Änderung der Krisenstrategie.
Christoph M. Schmidt, Präsident des RWI Leibniz Instituts, fordert eine Änderung der Krisenstrategie. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Die Forscher gehen davon aus, dass die Politik das nicht durchhalten wird und Lockerungen zulässt, sobald Besserung in Sicht ist – was freilich die Ausbreitung des Virus wieder beschleunigen würde. Als „einzigen Ausweg aus diesem Dilemma“ sehen sie einen radikalen Schwenk in der Bekämpfungs-Strategie. Anstatt jeden Bürger, ob infiziert oder nicht, unter eine Quasi-Quarantäne zu stellen, solle Deutschland einen neuen Weg gehen – mit Massentests, strenger Erfassung von Kontakten und Bewegungsprofilen der Infizierten und konsequenter Isolierung. Dass sich auf diese Weise sowohl das Virus bekämpfen lässt als auch die Wirtschaft gerettet werden kann, haben etwa Südkorea und Singapur vorgemacht.

In Deutschland würde das bisher schon an fehlenden Tests scheitern. Hoffnung geben nun die ersten Schnelltestes, erst am Donnerstag hat Bosch seinen vorgestellt, der in zweieinhalb Stunden das Ergebnis liefern soll. „Die Bereitstellung geeigneter Testmaterialien in großer Stückzahl, die rasch verlässliche Testergebnisse liefern, ist äußerst wichtig“, sagte dazu RWI-Präsident Schmidt unserer Redaktion. „Um die von uns vorgeschlagene Strategie umzusetzen, sind darüber hinaus jedoch hinreichende Personalressourcen und der Einsatz umfassender Daten zur individuellen Mobilität nötig.“

Das RWI fordert eine massive Ausweitung der Kapazitäten und Drive-in-Stationen, in denen sich jeder Bürger testen lassen könne. „Mit systematischen flächendeckenden Tests können infizierte Personen früh erkannt, sofort isoliert und behandelt werden“, so das RWI. Um die Ausbreitung zu verhindern, solle zwingend außerhalb der Kliniken getestet werden, um Ansteckungen des medizinischen Personals zu verhindern.

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Entscheidend ist dann aber auch die vollständige Eingrenzung des Personenkreises, der angesteckt worden sein könnte. Dafür brauche es eine Handy-App für jeden Bürger, die festhält, wer wann mit einem Virusträger am selben Ort war – und sich testen lassen sollte. Für diesen in Deutschland eigentlich unzulässigen Eingriff des Staates in die Privatsphäre müssten die Bürger für die Dauer der Corona-Krise auf den Datenschutz ihrer Bewegungen verzichten. Zum anderen müsste die Regierung auch die Gesetze entsprechend ändern.

Bürger müssten auf Datenschutz verzichten

Das wären drastische Schritte in einer freiheitlichen Gesellschaft, der zu zahlende Preis sei angesichts der schlimmeren Alternativen aber vertretbar. „Wie Erfahrungen aus Südkorea zeigen, lohnt sich dieser, um das Virus mit einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung in die Schranken zu weisen“, schreiben die RWI-Forscher. Ihr Plädoyer: „Eine Gesellschaft, die morgen noch die Möglichkeiten haben will, die Entfaltung von vielfältigen individuellen Lebensentwürfen in einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, muss jetzt die Solidarität aufbringen, in dieser Krisenphase mit der Übermittlung von Mobilitätsdaten einverstanden zu sein.“