Essen. RWI-Präsident Christoph Schmidt ist ab März kein Wirtschaftsweiser mehr. Die Regierung verliert ihren unbequemsten Berater. Seine Bilanz.

Der Chef der Wirtschaftsweisen ist ein ernsthafter Mensch, der eher leiser als lauter spricht, wenn ihm etwas besonders wichtig ist. Heute wirkt er so gelöst wie selten, trägt ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht. Christoph M. Schmidt hat seine Kollegen aus dem Sachverständigenrat zu Gast in Essen. Sie sind zu seiner letzten Sitzung als Vorsitzender des Expertengremiums ins RWI Leibniz Institut gekommen, um ihn zu verabschieden. Schmidt scheidet nach elf Jahren aus, seit 2013 war er Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Die Bundesregierung verliert ihren wichtigsten und zugleich unbequemsten Berater in ökonomischen Fragen. Denn die Gutachten der Weisen enthielten unter seiner Führung mehr Kritik, als manch Minister ertragen mochte.

Wirtschaftsweiser seit 2009

Christoph M. Schmidt, 1962 im australischen Canberra geboren, ist Volkswirt mit Schwerpunkten in der Energie- und Gesundheitsökonomik.

Er leitet das RWI Leibniz Institut in Essen seit 2002 und ist Professor an der Ruhr-Uni in Bochum. Dem Sachverständigenrat gehört er seit 2009 an, Vorsitzender wurde er 2013.

Auf eine „unglaublich bereichernde Aufgabe, die mich sehr ausgefüllt hat“, blickt Schmidt im Gespräch mit dieser Zeitung zurück. Es sei aber „für alle Beteiligten gut und richtig, dass dies ein endliches Engagement ist“, sagt der RWI-Präsident. Die Unabhängigkeit der Wirtschaftsweisen sei im Vergleich mit anderen Beratungsgremien von Regierungen auf der Welt einmalig. „Wir suchen unsere Themen selbst aus, haben alle Freiheiten zum Querdenken und können auch gegen den gesellschaftlichen Zeitgeist argumentieren“, betont Schmidt. Dies um den Preis, „dass unsere Ratschläge nicht immer in Regierungshandeln münden“. Doch man könne nicht Distanz und Verbindlichkeit gleichzeitig haben.

Rentenpaket „eines der frustrierendsten Erlebnisse“

Wer weiß, wie Schmidt etwa über die Rentenpolitik der großen Koalition denkt, kann sich ihn auch nicht als sanften Einflüsterer vorstellen. Dass die Regierung gegen den Rat der Sachverständigen 2014 die höhere Mütterrente und die Rente mit 63 für langjährig Versicherte durchgesetzt habe, sei rückblickend „eines der frustrierendsten Erlebnisse“ gewesen, sagt Schmidt. Denn beides greife „die Demografiefestigkeit der Rente an“. Dass die Gesellschaft altert und das Umlagesystem in der Rente zu Verteilungsproblemen zwischen Jung und Alt führt, sei aber lange bekannt. Wachsende Rentenansprüche bei längerer Lebenserwartung ließen sich nur durch späteren Renteneintritt auffangen.

Der Sachverständigenrat bei der Übergabe seines Herbstgutachtens im November 2019 (von links): Volker Wieland, Lars P. Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel und Achim Truger.
Der Sachverständigenrat bei der Übergabe seines Herbstgutachtens im November 2019 (von links): Volker Wieland, Lars P. Feld, Christoph M. Schmidt, Isabel Schnabel und Achim Truger. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Spätestens seitdem reagierte die Regierung zunehmend kühl, wenn Schmidt im Frühjahr und Herbst die Gutachten überreichte. Einen Reformstau attestierten die Weisen der Regierung 2016, sie ruhe sich auf dem schönen Aufschwung aus. Kanzlerin Angela Merkel (CDU), vor allem aber Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) reagierte gereizt, ihm wurde bereits 2014 nachgesagt, er habe den unbequemen Professor aus Essen nach seiner ersten Amtszeit loswerden wollen.

Nun weiß der Ökonom nur zu gut um die Zwänge der Politik und wie unpopulär es wäre, das Rentenalter nach 2030 weiter anzuheben, um die Rente bezahlbar zu halten. Doch erstaunlicherweise komme die Kritik an seiner Forderung immer von älteren Bürgern, die das gar nicht mehr betreffe und nicht von den Jüngeren.

Auf Generationengerechtigkeit achten

Das Wort von der Rentnerdemokratie geht Schmidt dabei zu weit, viele Ältere würden nicht nur an sich, sondern auch an ihre Kinder und Enkel denken. Doch die Gefahr bestehe natürlich, dass Parteien sich in ihrer Politik an den demografisch größten Wählergruppen orientierten. „Es wird auch unsere Aufgabe sein, auf Probleme der Generationengerechtigkeit hinzuweisen. Um das umlagefinanzierte System stabil zu halten, darf man die arbeitende Bevölkerung nicht überfordern. Wir sehen es im RWI ohnehin als eine zentrale Aufgabe an, den Diskurs mit der jüngeren Generation zu suchen.“

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Doch so schwer der Ökonom das Schweigen der jüngeren Generationen zur Rentenpolitik versteht, so sehr freut er sich über ihr Engagement für das Klima unter der Bewegung Fridays for Future. „Ohne die jungen Leute auf der Straße hätte sich die Politik nicht so bewegt, wie sie es getan hat“, lobt der 57-jährige Präsident des RWI Leibniz Instituts.

CO2-Bepreisung „ein wunderbarer Abschluss“

Und mit diesem Thema schließt sich der Kreis auch für ihn auf harmonische Weise. Als „wunderbaren Abschluss“ seiner Zeit als Wirtschaftsweiser sieht Schmidt, dass das Sondergutachten, welches auf seinem gemeinsamen Konzept mit dem Klimaforscher Ottmar Edenhofer beruht, sich im Klimapaket der Regierung niedergeschlagen hat. Kanzlerin Merkel habe sich selbst sehr für dessen Grundanliegen eingesetzt, dass dem Treibhausgas CO2 einen einheitlich Preis haben müssen, damit es sich lohnt, weniger auszustoßen. Das spiegelt sich in den neuen Abgaben auf Treibstoffe und Heizöl wider. Der Liter Benzin wird dadurch ab 2021 um rund 7,5 Cent, Diesel und Heizöl um etwa acht Cent teurer.

Allerdings hat die Politik einmal mehr den Mechanismen des freien Marktes nicht ganz vertrauen wollen, sondern den Preis nur als ein Element in einem breiten Paket von Maßnahmen installiert. „Die CO2-Bepreisung hätte das zentrale Element sein sollen. Die Güte von Klimapolitik zeigt sich nicht in der Summe der Investitionen“, sagt Schmidt. Da zwei Jahre zuvor aber noch niemand etwas von einem CO2-Preis habe wissen wollen, sei für ihn beim Klimapaket „das Glas halb voll statt halb leer“.

Regionale Verteilungskämpfe statt Klimapolitik

Christoph M. Schmidt beim Gespräch in seinem Büro im Essener RWI Leibniz Institut.
Christoph M. Schmidt beim Gespräch in seinem Büro im Essener RWI Leibniz Institut. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Dem jüngst beschlossenen Ausstiegspfad für die Kohlekraftwerke kann Schmidt allerdings wenig Gutes abgewinnen. Dass die besonders klimaschädlichen Braunkohlekraftwerke 2038 als Letztes vom Netz gehen sollen, nennt er „ökologisch nicht rational“. Vor allem die ostdeutschen Ministerpräsidenten hatten sich dafür stark gemacht. Es sei hier offensichtlich „mehr um regionalpolitische Verteilungskämpfe als um Klimapolitik“ gegangen, sagt der Volkswirt.

Sorgen macht er sich zudem um den gleichzeitig notwendigen Ausbau der Erneuerbaren Energien, ohne den der Umstieg nicht gelingen könne. „Für die Politik ist vieles schwer durchsetzbar, vom Windrad vor bis zur neuen Stromtrasse. Viele Bürger wollen alles, nur nicht vor der eigenen Tür. Selbst Umweltschützer verhalten sich dann oft widersprüchlich.“

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Schmidt will sich nun wieder ganz auf das RWI Leibniz Institut konzentrieren. Doch er versichert auch, dass er sich in die Debatten um die großen Themen wie Energiewende und Rente auch künftig einbringen werde.