Essen. Im Ruhrgebiet fehlen Tausende Kita-Plätze. Es mangelt beim Neubau weniger am Geld als an der Umsetzung. Grüne und Unternehmer fordern mehr Tempo.
Der Mangel an Kita-Plätzen und die für berufstätige Eltern knappen Öffnungszeiten werden aus Sicht der Wirtschaft zur Beschäftigungsbremse. Die Landesvereinigung der Unternehmensverbände NRW fordert längere Öffnungszeiten, mehr Notfallbetreuung und kürzere Schließzeiten während der Ferien. Ausbau und Qualität der Kitas seien wichtiger als Beitragsfreiheit, sagte Tanja Nackmayr dieser Zeitung, die Bildungs-Geschäftsführerin des Verbands Unternehmer NRW. Die schwarz-gelbe Landesregierung will ab 2020 die letzten beiden Kita-Jahre vor der Einschulung kostenfrei stellen.
Etliche Eltern im Ruhrgebiet wussten im Frühsommer noch nicht, ob sie ihr Kind nun ab August in die Kita bringen können oder nicht. Allein in Essen fehlten 3000 Plätze, in Duisburg 1000, in Gelsenkirchen 450. Engpässe gab und gibt es in fast allen Revierstädten. Die Kommunen bauen zwar fleißig neue Kitas oder bestehende aus, doch der Mangel an Fachkräften kommt beim Aufbau neuer Gruppen und ganzer Kitas erschwerend hinzu. Eltern wie Unternehmen fordern dagegen mehr Tempo, um jungen Eltern eine schnellere Rückkehr in den Beruf oder die Rückkehr von Teil- in Vollzeit zu ermöglichen.
NRW bei Abruf der Fördermittel mit vorn
Dabei fehlt es beim Kita-Ausbau einmal nicht am Geld. Der aktuelle Fördertopf des Bundes ist mit 1,12 Milliarden Euro gut gefüllt. Das Programm „Kinderbetreuungsfinanzierung“ läuft seit 2017 und Ende 2020 aus. Laut Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Grünen, die unserer Redaktion vorliegt, wurde deutschlandweit erst ein Viertel dieser Gelder abgerufen. NRW liegt im Ländervergleich mit bisher 34,6 Prozent abgerufener Mittel sogar ziemlich weit vorne, nur Bremen und Berlin haben bereits mehr Ausbaupläne umgesetzt und entsprechend Geld abgerufen. Doch gerade in den Ruhrgebiets-Kommunen gibt es noch viel zu tun.
Nachfragen in den Städten ergaben rege Bautätigkeiten bei anhaltend großen und bekannten Problemen. Das gilt vor allem für die Stadt Essen, die zunehmend mit Klagen leer ausgegangener Eltern überzogen wird. Dutzende wollen ihren Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz inzwischen vor Gericht durchsetzen. In Duisburg, der Stadt mit dem zweitgrößten Mangel an Kitaplätzen, hat bisher eine Handvoll Eltern den Klageweg beschritten.
In Essen fehlen auch 2020 noch 2000 Kita-Plätze
Der Kita-Ausbau laufe „bei uns auf Hochtouren“, sagte Essens zuständiger Dezernent Muchtar Al Ghusain, „für das Kita-Jahr 2019/2020 gehen über das Kita-Jahr verteilt 924 neue Plätze an den Start.“ Bei 3000 fehlenden Plätzen freilich nicht genug. Deshalb wird weiter geplant und gebaut, was die Programme hergeben. „In Essen befinden sich fünf Kitas im Bau, weitere 52 Kitas sind bis Ende 2026 in Planung und Vorbereitung“, sagt Al Ghusain. Zum Start des Kita-Jahres im August betrug die Lücke in Essen noch immer 2600 Plätze. Werden alle aktuellen Bauvorhaben pünktlich fertig, soll sie sich bis zum kommenden Sommer auf knapp 2000 Plätze verringern – immer noch deutlich mehr als in jeder anderen Ruhrgebietsstadt.
In Duisburg kamen zum Platzmangel in den Kitas organisatorische Unzulänglichkeiten hinzu. Zwei Wochen vor Kita-Start wussten 500 Eltern noch nicht, ob ihre Kinder einen Platz erhalten oder nicht. Jugenddezernent Thomas Krützberg musste Schwierigkeiten im Koordinierungsverfahren einräumen. Für die kommenden Jahre plant Duisburg den Neubau von 30 Kitas, teilte die Stadt auf Anfrage mit, etwa zehn davon könnten „kurzfristig realisiert“ werden, hieß es.
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Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hängt ganz entscheidend an der Frage, ob Eltern einen Kitaplatz finden. In ganz NRW fehlen weiterhin Kita-Plätze. Deshalb muss der Ausbau der Kinderbetreuung dringend vorangebracht werden“, sagte Katja Dörner, Fraktionsvize und Sprecherin für Kinder- und Familienpolitik der Grünen im Bundestag. Der zu langsame Ausbau hänge aber nicht nur am Geld: „Oft fehlen Grundstücke oder Handwerker“, sagt sie. Auch der Mangel an pädagogischem Personal sei „ein riesiges Problem“. Deshalb müssen die Ausbildung und der Job selbst viel attraktiver werden. „Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen und eine wesentlich bessere Bezahlung unserer Erzieherinnen und Erzieher“, fordert die grüne Familienpolitikerin.
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Für die Städte kommen hier in der Tat zwei Probleme zusammen: Wird eine neue Kita absehbar fertig, beginnt die zunehmend schwierige Suche nach Fachpersonal. Schon die bestehenden Kitas sind zu dünn besetzt, wie unlängst eine Bertelsmann-Studie zeigte. Eine Erzieherin für zehn Kinder in Duisburg oder für neun Kinder in Oberhausen, Bochum und Gelsenkirchen entspricht nicht den pädagogischen Empfehlungen.
Gelsenkirchens Jugenddezernentin Annette Berg ist trotzdem zuversichtlich, für die fünf neuen Kitas, die in ihrer Stadt im laufenden Kita-Jahr für 600 Plätze gebaut werden, auch rechtzeitig genügend Erzieherinnen zu finden, auch wenn wegen des Fachkräftemangels freie Stellen oft nicht sofort besetzt werden könnten. In Gelsenkirchen helfe, „dass wir selbst ausbilden und derzeit viele junge Menschen für diesen Beruf begeistern können“. Von den 450 Eltern in ihrer Stadt, die zunächst nur Absagen erhielten, seien „80 Prozent inzwischen doch noch versorgt“ worden. Sie geht davon aus, alle Kinder untergebracht zu haben, deren Eltern „einen dringenden Bedarf haben, vor allem, um ihre Jobs zu erhalten oder wieder einsteigen zu können“, so Berg. Klagen auf den Rechtsanspruch gebe es bisher nicht.
243 Millionen Euro für Kita-Ausbau in NRW
In Summe stehen für neue Kitas und Ausbauten 243 Millionen Euro für NRW-Kommunen zur Verfügung. Zu rund 95 Prozent der Summe wurden bereits Mittel für konkrete Vorhaben bewilligt. Woran hakt es also? Die Entwicklung der vergangenen Monate zeigt, dass in NRW durchaus fleißig gebaut wird. Noch im Juni waren nur 25 Prozent der Mittel abgerufen wurde, im Sommer kamen monatlich vier bis fünf Prozentpunkte hinzu. Das Landesjugendministerium hofft, dass bis Jahresende sämtliche angemeldete Mittel bewilligt werden. Da der Abruf erst erfolgt, wenn eine Baumaßnahme in Teilen oder ganz fertig ist, kann der Abruf der Mittel noch bis Ende 2022 erfolgen.
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Der Arbeitgeberverband „Unternehmer NRW“ begrüßt den Ausbau der Kitas und die Pläne für bessere Betreuungsqualität in NRW „als zentrale Voraussetzungen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, so Bildungsexpertin Tanja Nackmayr. Gleichwohl mahnt sie: „Jetzt muss bei der Umsetzung vor Ort sichergestellt werden, dass die Randzeiten tatsächlich besser abgedeckt, die Angebote zur Notfallbetreuung ausgeweitet und die Schließzeiten während der Ferien deutlich abgesenkt werden.“
Zudem sollten Kinder leichter auch während des Kita-Jahres aufgenommen werden, „das würde sich viel besser an der Lebenswirklichkeit der Eltern beim Wiedereinstieg in den Beruf orientieren“, so Nackmayr. Auch müssten betriebliche Kindergärten, die oft Lücken des öffentlichen Kita-Netzes schließen, gefördert werden.