Wesel. . 2018 konnten die Schleusen im Wesel-Datteln-Kanal wegen maroder Poller nur ein Schiff heben. Das hat Verkehr auf die Straße verlagert.
Tauziehen ist auch am Niederrhein eher auf Schulfesten verbreitet und nicht als Beruf. Doch nun gibt es sie, die ersten professionellen Seilfänger und -festmacher von Nordrhein-Westfalen: Sie vertäuen Schiffe in der Schleuse Friedrichsfeld, die vom Rhein in den Wesel-Datteln-Kanal wollen – oder umgekehrt. Machen sie fest an den Pollern oben am Rand der Schleuse. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Warum es diesen Drei-Schicht-Betrieb gibt? Weil die Poller in den Schleusenkammern, die vom Boot aus zu erreichen wären, nicht mehr halten. Marode Stein-Pilze haben die Wasserlogistik im Hightechland NRW lange genug lahm gelegt.
Das Pollerproblem, so profan es auch klingt, hat fast das ganze Jahr 2018 über dem Gütertransport über die Kanäle massiv zugesetzt. Weil die Schiffe sich nicht mehr selbst festmachen durften, konnte nur noch je ein Frachtkahn geschleust werden. Warteschlangen vorm Schleusentor waren die Folge, Verzögerungen und unterbrochene Lieferketten großer Industriekunden, etwa im Chemiepark Marl.
Auch Niedrigwasser hat die Wasserwirtschaft gebeutelt
Weil zu allem Überfluss auch noch das Niedrigwasser im Spätsommer und Herbst keine vollen Ladungen zuließ, wurde der Transport vieler Güter vom Wasser auf Schienen und Straßen verlagert. Die Schleuse Friedrichsfeld passierten 2018 nur noch rund 17.000 Schiffe nach 19.700 im Vorjahr. Durch das Niedrigwasser sank die Gütermenge noch drastischer – von 17,7 auf 13,4 Millionen Tonnen.
Das marode Schleusentor des Ruhrgebiets zum Rhein
Seit Dezember hält nun ein Dienstleister an sechs Schleusen Festmacher bereit, die von den Binnenschiffern die Seile fangen und an den noch intakten oberen Pollern vertäuen. Damit ist dieses Problem zumindest provisorisch gelöst. Aber: „Viele Unternehmen mussten ihre Logistik-Ketten ändern. Wenn sie das erst einmal getan haben, kehren die Güter nicht sofort zurück aufs Wasser. Sondern erst, wenn die neuen Lieferverträge auslaufen und dann auch nur, wenn die Kunden dem Wasserweg wieder vertrauen“, sagt Volker Schlüter vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt in Duisburg-Meiderich.
Er spricht deshalb von einem „herben Rückschlag für die Wasserwirtschaft“ und wirbt eindringlich dafür, sie wieder zu stärken. „Die Kanäle sind nicht nur zum Grillen am Ufer da, sondern eine bedeutende Infrastruktur, über die unsere Industrie versorgt wird. Funktioniert das nicht mehr, geht die Industrie.“ Es ist nicht der erste Hilferuf Richtung Politik.
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Auch für die ohnehin verstopften Autobahnen im Revier sei es wichtig, dass die Kanäle wieder instand gesetzt werden. Würden die 30 Millionen Tonnen an Gütern, die im Ruhrgebiet derzeit pro Jahr übers Wasser transportiert werden, auf die Straße verlagert, brächte das jeden Tag rund 3000 Lkw mehr auf die Straßen dieser Region.
Die Poller sind nur ein kleines Detail der maroden Infrastruktur zu Wasser. Das ist auch der Grund, warum sie nicht sofort repariert werden. „Wir müssen zuerst Spundwände erneuern, Schleusentore reparieren und Dämme verstärken – die Poller stehen auf der Prioritätenliste nicht oben“, sagt Schlüter. Er müht sich in der Duisburger Zweigstelle der für alle Kanäle zuständigen Bundesbehörde darum, die gröbsten, teils gefährlichen Mängel zu beheben.
70 sicherheitsrelevante Schäden an Revier-Kanälen
Ein undichter Kanal, der oberhalb des Umlands liegt, ist eben dringender als ein Poller. Es fehlt nicht an Geld, sondern an Personal. Die Bundesbehörde hat in den vergangenen Jahrzehnten 6500 Stellen abgebaut. Der Bund geizt heute nicht mit Mitteln für die Kanäle, tut sich aber schwer damit, neue Planstellen zu genehmigen. Und gibt es welche, können sie nur schwer besetzt werden. Das führt dann etwa zum Verfall des Ruhrwehrs in Duisburg. Oder dazu, dass im Rhein-Herne-Kanal in Altenessen eine vor Jahren geborstene Spundwand, die gefährlich in den Kanal ragt, noch immer mit Warnbojen gesichert statt erneuert wird.
Arndt Glowacki, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Häfen NRW und Wasserstraßen-Experte bei Evonik, ruft den Sanierungsnotstand aus: „Es ist fünf nach zwölf. Es gibt 70 sicherheitsrelevante Schäden an den Kanälen im Ruhrgebiet. Doch der Verfall geht schneller voran als die Reparaturen.“
Weil die maroden Poller durch menschliche Taufänger ersetzt wurden, läuft der Schiffsverkehr nun immerhin besser als 2018, aber noch nicht so wie davor. Schätzungen zufolge werden sie wohl bis etwa 2025 ihre neuen Jobs noch ausüben. Und somit die Belieferung etwa der Kohlekraftwerke von RWE und Trianel sicherstellen.
Auch Evonik habe Güter vom Wasser verlagern müssen, sagt Glowacki, vor allem auf die Schiene und in Fernleitungen. Er beklagt den Verfall der Kanäle seit vielen Jahren. So ist beschlossen, alle Schleusen im Wesel-Datteln-Kanal zu erneuern, aber: „Bei der aktuellen Geschwindigkeit dauert das 20 bis 25 Jahre. Wir warten also eine ganze Generation lang auf neue Schleusen, die alten müssen so lange funktionsfähig bleiben.“
Auch Evonik hat Güter auf die Schiene verlagert
Beschränkte Befahrbarkeit und das Niedrigwasser hätten Evonik 2018 „ganz schön zugesetzt“, sagt er. Der Essener Konzern, der in Marl seinen größten Chemiepark betreibt, habe das kompensiert, dafür aber einen immensen logistischen Aufwand betreiben müssen. Auf der wichtigen Schiffsroute Antwerpen-Marl sei es zu Verzögerungen von bis zu 30 Stunden gekommen.
„Für Wasserstraßen gibt es keine Lobby“, klagt Glowacki. Dabei entlaste jede Tonne, die aufs Schiff verlagert werde, die überfüllten Straßen im Ruhrgebiet, im Wesel-Datteln-Kanal zum Beispiel die völlig verstopfte B224 durch Essen, Gladbeck und Gelsenkirchen. Wer also, etwa bei der Ruhrkonferenz, über den Verkehr und die Logistik der Zukunft rede, täte gut daran, sich für die Wasserstraßen einzusetzen.
>>> Ein Schleusengipfel und fünf neue Stellen
Der Sanierungsstau an den Kanälen und Schleusen im Ruhrgebiet ist an diesem Dienstag Anlass für einen „Schleusengipfel“. Entscheider aus Ministerien, Behörden und Wirtschaft beraten sich in Dorsten und Marl.
Für die Instandsetzung systemkritischer Bauwerke wurden zuletzt drei Stellen im Ruhrgebiet neu besetzt. Auch konnten zwei von 15 vakanten Ingenieurstellen besetzt werden, teilte der Marler SPD-Bundestagsabgeordnete Michael Groß mit.