Duisburg. . Weil sich Schiffe in Schleusen nicht mehr vertauen dürfen, ist der Gütertransport zu Wasser gefährdet. Behörde schlägt menschliche Festmacher vor

Über Digitalisierung, autonomes Fahren und andere Zukunftsthemen reden sie auch auf dem Schulschiff „Rhein“. Doch die Gegenwart quält die Binnenschiffer mit einem leidlich banalen Problem: Sie verlieren Stunde um Stunde, weil sie in manchen Kanalschleusen nicht mehr festmachen dürfen. Die Poller in den Schleusenwänden haben es hinter sich.

Die Folgen dieser alles andere als plötzlich aufgetretenen Altersschwäche der Taufänger sind gravierend: Schiffe verlieren im Wesel-Datteln-Kanal bis zu zwölf Stunden, ihre Kunden dadurch viel Geld – darunter etwa RWE und Trianel mit ihren Kohlekraftwerken und Evonik mit seinem Chemiepark Marl. Sie überbieten sich in dramatischen Appellen, die Schleusen endlich zu sanieren, die maroden Poller sind nur die jüngste Zuspitzung eines Dauerproblems. Andernfalls gerate die Versorgung ganzer Industrien im Ruhrgebiet mit Rohstoffen in Gefahr.

Kunden und Schiffer wollen sich nun Gehör verschaffen. In Duisburg haben sie sich mit der verantwortlichen Bundesbehörde getroffen, um Druck zu machen. Dass die „Generaldirektion Wasserstraßen und Schifffahrt“ (GDSW) aber in ihre Klage einstimmt und frank und frei einräumt, die Lage nicht mehr im Griff zu haben, war nicht eben das, was sie hören wollten.

Geld ist da, aber es fehlen Stellen

Dabei hapert es mal nicht an der Finanzierung. „Geld gibt der Bund genug. Uns fehlt das Personal, um Aufträge für die Sanierungsarbeiten auf den Weg zu bringen“, sagt Hermann Poppen, der im GDSW die Abteilung Wasserstraßen leitet. Die Bundesverwaltung hat in den vergangenen Jahrzehnten mit 6500 Stellen etwa jede dritte abgebaut.

Der Sanierungsstau sei riesig: „Wir haben zwei Jahrzehnte lang von der Substanz gelebt. Jetzt treten pro Jahr mehr neue Probleme auf, als wir alte abarbeiten können“, sagt Poppen und bemüht die „Bugwelle“, der man nicht Herr werde. Es ist ein Hilferuf: Der Bund gibt zwar genug Geld für Projekte, schafft aber keine neuen Stellen. Also kann er auch keine besetzen.

Als provisorische Lösung schlägt er „Festmacher“ vor – also Menschen, die an den Schleusenwänden stehen und Taue um die oberen Pollern wickeln. Die sind im Gegensatz zu den vom Schiff aus erreichbaren Nischenpollern noch stabil genug für die langen Pötte. Einziges Problem: Es gibt weit und breit keine Tau-Festmacher. Wann sie an den Schleusen stehen, kann Poppen daher nicht sagen. Wohl aber, dass sie etwa zehn Jahre ran müssten, bis die neuen Nischenpoller sitzen. Ein ziemlich langes Provisorium, findet Jens Schwanen, Geschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Binnenschifffahrt: „Jetzt werfen also zehn Jahre lang Männer Taue hin und her – das ist kein Sanierungskonzept, sondern Flickschusterei.“

Horrorszenario auslaufender Kanäle

Seine Behörde könne die Kanäle derzeit gerade so instand halten, sagt Poppen. Die alten Poller stünden dabei nicht oben auf der Agenda. Sondern sicherheitsrelevante Arbeiten, etwa das Flicken von Spundwänden oder Schleusentoren. Ein auslaufender Kanal, der im Kohlerevier vielerorts oberhalb des Umlands liegt, wäre eben noch verheerender als marode Poller.

Das macht es für sie freilich nicht besser. Der Wesel-Datteln-Kanal ist die Hauptwasserstraße im Ruhrgebiet. Das Pollerproblem, so profan es auch sein mag, senkt die Kapazität der Schleusen dramatisch: Die in Voerde hievt jährlich 19 Millionen Tonnen auf 20 000 Schiffen vom Rhein in den Kanal. In diesem Jahr werden es deutlich weniger sein. Seit die Poller zu Jahresbeginn gesperrt wurden, darf nur noch ein Frachtschiff geschleust werden, davor waren es zwei – Kapazität halbiert. Die verlorene Zeit ist verlorenes Geld. Roberto Spranzi von der Transport-Genossenschaft Binnenschifffahrt sieht manchen Kapitän bereits „Richtung Existenzbedrohung“ tuckern.

RWE und Evonik sehen Lieferketten in Gefahr

Die Folgen spüren auch Kunden wie Evonik. Über den Wesel-Datteln-Kanal bezieht der Konzern seine Rohstoffe für den Chemiepark Marl und verschifft seine Produkte Richtung Seehäfen. „Unser Umlauf mit Antwerpen ist gestört, unsere Abläufe sind kaum noch planbar. Wir betreiben einen immensen Aufwand, um den Betrieb aufrecht zu erhalten“, sagt Evonik-Logistikmanager Arndt Glowacki.

Kraftwerksbetreiber RWE verliert auch Geld: „Die Seedampfer in Rotterdam warten nicht auf unsere Binnenschiffe. Weil die Ladung aber gelöscht werden muss, wird sie zwischengelagert, was Zusatzkosten verursacht“, sagt RWE-Logistikmanager Stefan Egyptien.

Da die Bundesbehörde ihr eigenes Planungsversagen einräumt, weiß sie die Wirtschaft in einem Punkt geschlossen hinter sich: Die neue Bundesregierung möge ihr rasch neue Stellen bewilligen.