Essen. . Ist die Kanalisation für den Klimawandel gewappnet? Bei Starkregen sind die Kanäle vielerorts überfordert, urteilt die Bauindustrie in NRW.
Wenn Beate Wiemann über die öffentliche Kanalisation spricht, lässt sie keinen Zweifel daran, dass unter der Erdoberfläche ein Problem schlummert. „Die Kanäle stehen heute kurz vor dem Zusammenbruch“, sagt die Hauptgeschäftsführerin des Bauindustrieverbands NRW. „Während oben die neue Straße glänzt, verrotten darunter die Kanäle.“
Wiemann verweist auf eine Studie, die der Verband durch seine Tochterfirma BWI-Bau hat erstellen lassen. Demnach liegt der jährliche Investitionsbedarf allein in NRW bei rund 1,5 bis 1,8 Milliarden Euro. In den vergangenen Jahren seien durchschnittlich nur rund 500 Millionen Euro pro Jahr in die Kanalisation investiert worden, berichten die Studienautoren. Daraus ergebe sich ein jährliches Investitionsdefizit von 1,0 bis 1,3 Milliarden Euro. Zur Erhaltung der Substanz sei somit mehr als eine Verdoppelung des jährlichen Investitionsvolumens erforderlich.
Kanalnetz vielerorts 50 Jahre oder älter
Als ein wichtiger Faktor für den Zustand des Kanalnetzes gilt das Alter der Rohre. Landesweit seien mindestens 15.000 Kilometer der öffentlichen Kanäle älter als 50 Jahre, heißt es in der Studie. Bei etwa 13.600 Kilometern sei das Baujahr unbekannt, was ein älteres Datum nahelege. Damit dürften der Studie zufolge knapp 30 Prozent des nordrhein-westfälischen Kanalnetzes in die Kategorie 50 Jahre oder älter fallen – und damit „in ein kritisches Alter“ kommen.
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„Unsere Kanäle halten dem Klimawandel nicht stand“, mahnt Beate Wiemann. „Starkregenereignisse werden immer häufiger. Sollen unsere Städte dann in Zukunft regelmäßig unter Wasser stehen?“ Es sei wichtig, die Infrastruktur für die Folgen der Erderwärmung zu wappnen. „Dazu gehören größer dimensionierte Kanalnetze, die den Starkregen aufnehmen können.“
Auch Städte sehen Handlungsbedarf
Martin Lehrer vom Städte- und Gemeindebund NRW äußert sich dazu skeptisch. Die Gefahren durch Starkregen ließen sich nicht durch einen massiven Ausbau der Kanalnetze abwenden, sagt er, „denn dann ist das Wasser nur sehr schnell in den Flüssen und verursacht dort Hochwasser für weiter flussabwärts gelegene Gebiete“. Ein Lösungsansatz sei hingegen, Regenwasser möglichst schon auf den betroffenen Grundstücken versickern zu lassen. Bei Neubaugebieten sei dies bereits Vorschrift. Aber auch bei bestehenden Gebäuden könne noch einiges getan werden.
Das „eigentliche Problem im öffentlichen Abwasserkanalnetz“ seien die privaten Zuleitungen von den Grundstücken und Häusern zum öffentlichen Kanal, gibt Martin Lehrer zu bedenken. Diese seien oft in einem erheblich schlechteren Zustand als der öffentliche Kanal. Durch undichte Stellen in den privaten Zuleitungen könne sowohl Grundwasser in das Abwassernetz einfließen als auch Schmutzwasser austreten und sich im Boden verbreiten. Da aber die Dichtheitsprüfung privater Leitungen – außer in Wasserschutzgebieten – nach heftigen Protesten von Bürgern wieder abgeschafft worden sei, blieben dringend erforderliche Sanierungen aus.
Kanalnetz mit gewaltigen Ausmaßen
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Das öffentliche Kanalnetz in NRW hat mit rund 98.600 Kilometern gewaltige Ausmaße. Allein in der Stadt Köln sind es fast 2400, in Dortmund rund 2000 Kilometer. Eine besonders hohe Bautätigkeit habe es landesweit in den 60er und 70er Jahren gegeben, etwa ein Drittel der Kanäle stamme aus dieser Zeit. „Die in diesen Jahren verlegten Kanäle werden in den nächsten Jahren zur Sanierung beziehungsweise Erneuerung anstehen“, heißt es in der Studie von BWI-Bau.
Das Entwässerungsnetz in NRW sei in einem zum Teil deutlich schlechteren Zustand als im bundesweiten Durchschnitt, so die Studienautoren. Kurz- oder mittelfristig müssten bis zu 40 Prozent des Kanalnetzes saniert werden. Als Beispiel für eine Kommune mit besonderem Erneuerungsbedarf nennt die Bauindustrie die Stadt Bochum. Mehr als 20 Prozent des Bochumer Kanalnetzes seien Zustandsklassen zuzuordnen, bei denen sofort oder kurzfristig saniert werden müsse.
Tagesbrüche durch defekte Kanäle
Äußerlich erkennbar seien Risiken im Kanalnetz meist nur durch Tagesbrüche, die durch defekte Kanäle entstehen, erklären die Studienautoren. Hochwasserschäden durch Überflutungen nach Starkregen deuten den Experten zufolge ebenfalls auf zu gering dimensionierte Kanalrohre hin.
„Starkregenereignisse überlasten häufig die Kanalnetze“, sagt Deliana Bungard vom Deutschen Städte- und Gemeindebund. Die reguläre Straßenentwässerung sei mitunter nicht in der Lage, extreme Wassermengen bei Starkregen abzuleiten. Ziel der Kommunen müsse es sein, bei der Flächennutzung und Siedlungsentwicklung die Rückhalteräume für das Wasser zu vergrößern.
„Substanzverlust auf kommunaler Ebene“
Konkrete Zahlen zum Zustand der kommunalen Kanalisation habe der Deutschen Städte- und Gemeindebund nicht. Klar sei aber, dass der kommunale Investitionsrückstand in Deutschland insgesamt gewaltig sei. „Damit wird der Substanzverlust auf kommunaler Ebene immer sichtbarer“, kritisiert Deliana Bungard. Für den Schutz vor den Auswirkungen von Starkregen oder eine bessere Dimensionierung der Kanalisation sei allerdings finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern erforderlich. Auch Helmut Dedy, Geschäftsführer des Städtetages Nordrhein-Westfalen, betont, die Kommunen seien gefordert, „ihre Infrastruktur für Starkregenereignisse, Sturzfluten oder Dürrezeiten anzupassen“.
Indirekt trägt jeder Bürger einer Kommune über seine Abwasser- und Trinkwasser-Gebühren die Kosten für die Sanierung der Kanalisation mit. „Die Landesregierung könnte die Kommunen mit einem Sonderprogramm finanziell unterstützen“, regt Bauverbandsmanagerin Wiemann an. „Alleine werden die klammen Kommunen diese Investitionen nicht stemmen.“