Essen. . Wurst ohne Fleisch ist im Trend. Nun drängt auch die Fleischindustrie in den Markt. Zielgruppe sind nicht so sehr Vegetarier, sondern Flexitarier.

Es klingt bizarr: Das Unternehmen Rügenwalder Mühle produziert seit jüngstem zwei Sorten seiner "Schinken Spicker"-Wurst: Die herkömmliche Mortadella in den hellblauen Packungen ist zu 74 Prozent aus Schweinefleisch. In den grünen Packungen steckt Wurst, die zu 71 Prozent aus "Eiklar" besteht. Fleisch? Fehlt darin. Form, Farbe, Name, selbst der Geschmack beider Produkte sind so gut wie identisch. Nur: die vegetarische Variante verkauft sich besser.

"Wir beobachten eine Industrialisierung bei vegetarischen Lebensmitteln", sagt Bettina Seul vom Institut für Handelsforschung in Köln (IFH Köln). "Der Markt wird zu einem Massengeschäft". Das Entwicklungspotential? Groß! Zielgruppe sind jedoch nicht Vegetarier oder gar Veganer: Es geht um "Flexitarier"; eine wachsende Gruppe Verbraucher, die ihren Fleischkonsum bewusst reduzieren. Vor allem aus Gesundheitsgründen, weniger aus Ideologie.

Fleischersatz aus Tofu, Tempeh, Saitan, Lupinen - oder Ei

Mehrere Wurstproduzenten planen ebenfalls noch in diesem Jahr eigene "Fleischersatzprodukte", heißt es beim Verband der deutschen Fleischwarenindustrie. Es geht dabei jedoch nicht um weitere billig durch Enzymtechnik fabrizierte Fleischimitate wie (Klebe-)Schinken oder (Formfleisch-)Steaks, die Verbrauchern seit Jahren untergejubelt werden. Beim Fleischersatz geht es um "Fleisch", das aus Tofu, Tempeh, Saitan, Lupinen-Bohnen oder eben Ei besteht. Letzteres ist für Veganer Tabu, Flexitarier sind da: flexibel.

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"Rund 80 Prozent der Vegetarier mögen Fleisch-Geschmack"

Auch das klingt bizarr: Immer mehr Verbraucher verbannen Fleisch dann und wann vom Speiseplan, wollen aber dennoch ein Fleischgefühl im Mund. Das jedenfalls zeigten Marktforschungen, heißt es. Wurstproduzent Rügenwalder etwa verweist darauf, dass "rund 80 Prozent der Vegetarier durchaus den Geschmack von Fleisch und Wurst mögen".

Vegetarische Fleischersatzprodukte halten inzwischen sogar bei Discounterketten Einzug, wie etwa Aldi-Süd: "Wir führen mehr als 30 als vegetarisch gekennzeichnete Produkte in den Filialen", teilt eine Aldi-Sprecherin mit. Dazu gehören Bio Veggie-Burger, Bio Veggie-Würstchen, Bio Veggie-Gulasch, Soja Veggie Knusperstäbchen und Soja-Schnitzel.

Veggie-Produkte sollen "wie echt" aussehen

Fleischersatz zu entwickeln "ist relativ schwierig", sagt Jessica Lutze, Sprecherin der Bio-Handelsmarke Alnatura. "Die typische faserige Konsistenz von Fleisch kann fast nur mit Seitan erreicht werden", das aus Weizeneiweißfasern gewonnen wird - sofern man auch Veganer als Zielgruppe habe. "Viele konventionelle Fleischersatzprodukte sind jedoch auf Basis von Eiern aus Bodenhaltung", erklärt Lutze. In beiden Fällen gilt jedoch: "Durch eine gute Würzung kann man mittlerweile einen fleischähnlichen Geschmack erzielen". Das hat seinen Preis, sagt die Alnatura-Sprecherin: "Je mehr natürliche Zutaten für die Zubereitung von Fleischersatzprodukten verwendet werden, desto kostenintensiver ist die Herstellung", Gewürze etwa seien teuer als Aromen.

Bei Rügenwalder sagt eine Firmensprecherin, man habe rund drei Jahre an der vegetarischen Wurst entwickelt: Das Veggie-Produkt müsse „wie echt“ aussehen, es müsse sich "beim Reinbeißen genauso anfühlen" wie Fleisch und auch so schmecken. Dabei "kommt es nicht nur auf die richtigen Gewürze an". Details zu den Rezepturen mag man bei Rügenwalder (natürlich) nicht verraten.

Und der Umsatz?

36 Prozent Umsatzsteigerung bei Veggie-Lebensmitteln 

Bei Veggie-Lebensmitteln verzeichnet der Handel in Deutschland seit 2008 ein Umsatzplus von jährlich rund 30 Prozent, teilt der Vegetarierbund (VEBU) mit: "Ein Wert, von dem Experten anderer Marktsegmente träumen". Das aktuelle Umsatzplus beträgt 36 Prozent, hieß es in einer Mitteilung vom vergangenen Oktober. Rund 50 Millionen Euro seien laut VEBU in Deutschland alleine in der ersten Jahreshälfte 2014 mit Veggie-Produkten umgesetzt worden. "Rügenwalder macht bereits jetzt 15 Prozent des Gesamtumsatzes mit den neuen Veggieprodukten", sagt VEBU-Sprecherin Stephanie Stragies. Die Wurstfirma, deren Zentrale nicht auf Rügen ist sondern im niedersächsischen Bad Zwischenahn, hat sich vom Vegetarierbund bei der Produktentwicklung fachlich beraten lassen.

"Wir werden die erste und gleichzeitig die letzte Generation sein, die jeden Tag Fleisch auf dem Teller hat", gibt man bei Rügenwalder den Schritt in den Veggie-Markt auch eine politische und ökologische Dimension: "Auf lange Sicht lässt sich die Weltbevölkerung mit der derzeitigen Ernährungseinstellung nicht ernähren." Als nächstes will Rügenwalder deshalb vegetarische Schnitzel auf den Markt bringen. Zudem soll der Anteil vegetarischer Produkte bereits 2016 ein Drittel des eigenen Angebots umfassen - ein Jahr rascher, als ursprünglich geplant.

Fleischindustrie ist "nicht allein dem Rohstoff Fleisch" verpflichtet

60 Kilo Fleisch werden in Deutschland pro Kopf und Jahr verzehrt. "Der Fleischkonsum geht seit zwei Jahren leicht zurück", sagt Thomas Vogelsang, Geschäftsführer des Bundesverbands der Fleischwarenindustrie. Dass Fleischfirmen vegetarische Produkte herstellen, liegt für Vogelsang sogar nahe: "Wir sind nicht allein dem Rohstoff Fleisch verpflichtet". Technik und Knowhow ließen sich auch für andere Rohstoffe nutzen.

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Indes sagt Handelsforscherin Bettina Seul: "Überzeugte Vegetarier und Veganer wird man mit Fleischersatzprodukten nicht zwingend erreichen". Für diese Menschen ist Ernährung eine Frage der Lebensweise und der Verzicht auf Fleisch wird oftmals ethisch begründet. Da könne Fleischersatz gar Ekel auslösen. Flexitarier folgten dagegen mehr einem Ernährungstrend. Deshalb müssten Fleischalternativen in möglichst vielen Punkten Fleisch gleichen. Den Kniff hat die Industrie zumehmend 'raus, sagt Handelsforscherin Seul: "Fleischersatzprodukte bedeuten häufig optisch und geschmacklich keinen Verzicht".

So gibt es mittlerweile sogar vegane "Köttbullar" bei Ikea, die nun als '"Grönsaksbullar" in den Möbelhaus-Restaurants aufgetischt werden; entwickelt übrigens in Zusammenarbeiter mit der Tierschutzorganisation Peta. Auch hier geht es um mehr, als nur die spezielle Zielgruppe der auf 900.000 Personen in Deutschland geschätzten Veganer zu befriedigen. Das neue Produkt soll Ikea helfen, die CO-Bilanz des Möbelkonzerns zu reduzieren, erklärte Michael La Cour, Geschäftsführer von Ikea Food Services, zur Einführung. Und: "Wir werden den Fokus mehr auf die Aspekte legen, die den Menschen immer wichtiger werden: Gesundheit und Nachhaltigkeit."