Essen. „Zahl’, was du willst“ – mit diesem Motto wollen Gastwirte, Frisöre, Kinobetreiber, Hoteliers oder Optiker neue Kunden anlocken. Das Erstaunliche: Kaum ein Käufer traut sich, das Angebot schamlos auszunutzen. Doch die Masche funktioniert nicht immer.

Beim Brillenkauf werden manche Kunden in diesen Tagen eine Überraschung erleben. Am Brillenbügel baumelt noch das Preisschild. „99,90“ Euro steht darauf. Doch diesen Preis muss der Käufer nicht zahlen. Er kann auch nur ein paar Cent auf die Ladentheke legen. Preisanarchie bei Apollo-Optik: Der Kunde hat die Macht. „Sie bestimmen den Preis“ heißt der Slogan der Aktion, die noch bis Mitte Oktober läuft. Freilich liefert sich die Optiker-Kette nicht uneigennützig ihren Käufern aus. „Wir hoffen, dass wir mehr Kunden von unserem Unternehmen überzeugen können“, sagt Marketing-Direktor Volker Reeh.

„Zahl’, was du willst“ – auf diese Verkaufsstrategie setzen auch zunehmend Gastwirte, Frisöre, Kinobetreiber oder Hoteliers. „In Zeiten härteren Wettbewerbs ist das eine beliebte Methode, um auf sich aufmerksam zu machen“, sagt Martin Spann, Professor für Marketing an der Universität Passau. Zusammen mit Wissenschaftlern der Universität Frankfurt hat er das Verkaufs-Modell in mehreren Branchen getestet. Ihr Fazit: Die Bilanz stimmte fast immer. Die Unternehmen konnten ihren Umsatz sogar steigern, weil die Aktion neue Käufer anlockte. „In der Regel zahlen die Kunden etwas weniger als den Normalpreis“, sagt Spann. „Aber dieser Effekt wird durch den Mehrverkauf überkompensiert.“

Gewissensbisse stärker als der Geiz

Erstaunlich ist, dass wenige das Angebot schamlos ausnutzen. Die Studien belegen: Kaum jemand zahlt nur ein paar Cent. Und niemand traut sich, das Restaurant oder das Geschäft zu verlassen, ohne zu zahlen. Diese Erfahrung machen auch die Verkäufer von Apollo-Optik: „Es gibt wenige Schnäppchenjäger, dafür viele, die einen angemessenen Preis bestimmen“, sagt Reeh. Wirtschaftsforscher hatten dagegen lange angenommen, dass Kaufentscheidungen ausschließlich vom ökonomischen Nutzen bestimmt werden. Diese These ist widerlegt: Die Gewissensbisse sind meist stärker als der Geiz. Eine Rolle spielt auch das Einkommen. Besserverdiener zahlen oft mehr als Hartz-IV-Empfänger.

Auch beim Sommerfestival des Apollo-Theaters in Siegen haben die Veranstalter mit dem „Zahl’, was du willst“-Prinzip gute Erfahrungen gemacht. „Zu unseren Straßentheater-Aufführungen kamen plötzlich doppelt so viele Besucher“, sagt Martin Horne vom Organisationsteam. Beim diesjährigen Schlossfest ging das Konzept jedoch nicht auf: Die Besucher konnten einen beliebigen Betrag in Urnen stecken, die an den Ausgängen aufgestellt waren. Viele verließen das Festival, ohne zu zahlen. Die Veranstalter machten so große Verluste, dass sie im kommenden Jahr wieder ein festes Eintrittsgeld verlangen wollen.

Persönlicher Kontakt erhöht Zahlungsmoral

Auch in einigen Gaststätten und Cafés zahlt der Kunde, was er will. Foto: ddp
Auch in einigen Gaststätten und Cafés zahlt der Kunde, was er will. Foto: ddp © ddp

Vermutlich waren viele Besucher des Schlossfestes geiziger, weil niemand neben den Urnen stand, der an ihr Gewissen appellieren konnte. „Das Verkaufsprinzip eignet sich am besten, wenn der Kunde im persönlichen Kontakt zum Anbieter steht“, sagt Spann. „Bei Anonymität steigt dagegen die Gefahr, dass das Angebot ausgenutzt wird.“ Das musste auch die britische Band Radiohead erfahren, als sie im Oktober 2007 ihr neues Album „In Rainbows“ im Internet anbot. Der Kunde konnte null bis 99,99 britische Pfund für den Download bezahlen. Laut dem amerikanischen Marktforschungsinstitut Comscore sprang für die Künstler dabei im Schnitt nur 1,53 Euro pro CD heraus. Mehr als 60 Prozent luden sich die Lieder sogar kostenlos herunter. Die Band wertet das Experiment trotzdem als Erfolg, da sie neue Fans gewinnen konnte.

Verluste riskiert der Verkäufer offenbar auch, wenn er das Angebot zu lange laufen lässt. Die Ergebnisse einer Studie der Ruhruniversität Bochum deuten darauf hin, dass die Zahlungsmoral mit der Zeit abnimmt. Die Studenten konnten in der Strandbar auf dem Campus für Hamburger und Eiscafés zwei Monate lang so viel bezahlen, wie sie wollten. „Beim ersten Mal waren die Leute noch großzügig, doch die Zahlungsbereitschaft ist immer mehr gesunken“, sagt Laura Marie Schons, Marketingexpertin der Ruhruniversität. Derzeit werden die Daten noch ausgewertet. „Aber wir vermuten, dass es einen Zeitpunkt gibt, ab dem die Strategie für den Anbieter nicht mehr profitabel ist.“

Für Ferrari-Händler ungeeignet

Alles in allem bewertet sie die Zukunft des „Zahl’, was du willst“-Prinzips eher skeptisch. „Diese Methode steckt jetzt noch in den Kinderschuhen“, sagt Schons. „Doch wenn der Überraschungswert für den Kunden erst einmal weg ist, wird sich vermutlich auch der positive Effekt abnutzen.“

Geeignet ist das Konzept ohnehin nur für günstige Produkte und Dienstleistungen. „Wenn die Ware zu wertvoll wird, überwiegt der Wille, ein Schnäppchen zu machen, den Fairness-Gedanken“, sagt Marketing-Professor Spann. Für Juweliere oder Ferrari-Händler etwa sei das Risiko deshalb einfach zu hoch. Auch bei Apollo-Optik hat man ein Fallnetz eingebaut: Das Angebot gilt nur für Brillengestelle bis 99,90 Euro. Zudem dürfen nur Brillen mit Sehschärfe erstanden werden. Das heißt, die Gläser muss der Kunde auf jeden Fall bei Apollo-Optik kaufen – und zum Fest-Preis bezahlen.