Essen. Die Sicherheitsprobleme im deutschen Schienennetz sind weit gravierender als angenommen. In einigen bisher unbekannten Fällen konnten Katastrophen offenbar nur knapp vermieden werden. Für die NRW-Grünen ist die Bahn nicht mehr so sicher wie vor 20 Jahren.

In den letzten zwei Jahren ist es zehn Mal zu Bränden in Regionaltriebwagen gekommen, bei denen teilweise Fahrgäste unmittelbar gefährdet wurden. Nachdem zwei dieser Vorfälle im Juni und Juli diesen Jahres zu Evakuierungen der Züge führten, hat das Eisenbahnbundesamt jetzt angeordnet, dass bei den im ost- und süddeutschen Raum eingesetzten Fahrzeugen Abgas-Turbolader ausgetauscht werden müssen.

Wörtlich heißt es in dieser Verfügung: Es bestehe „für sämtliche Fahrgäste, die mit den betroffenen Fahrzeugen reisen, eine hohe Gefahr für Leben und Gesundheit”. Bei einem der Brände im Juni nördlich von Berlin hätten die 30 Insassen „zufällig glücklicherweise gerettet werden können. Es ist jedoch nicht zu erwarten, dass dies in jedem neu auftretenden Fall gelingen würde."

Auswirkungen auf Regionalverkehr in NRW möglich

Auch die Achs-Probleme weiten sich über den bisher bekannten Ärger mit ICE und Güterwagen aus: Nach einem Radbruch an einem Doppelstock-Fahrzeug Ende letzter Woche ermittelt die Aufsichtsbehörde, ob es sich um einen Einzelfall an dem noch in der DDR hergestellten Waggon handelt. Käme es zu einer Flottenstilllegung ähnlich wie derzeit bei der Berliner S-Bahn, könnte auch der Regionalverkehr an Rhein und Ruhr davon betroffen sein.

Der Betriebsratsvorsitzende der DB Netz AG in Nordrhein-Westfalen, der Dortmunder Norbert Schilff, bedauerte die Häufung der Vorkommnisse bei der Bahn. Er sagte der WAZ: „Dies ist aber auch die Folge davon, dass die Bahn in den vergangenen zehn Jahren bei den Herstellern der Fahrzeuge viel Schrott gekauft hat. Die Qualität lässt zu wünschen übrig." Die Führung der Bahn unter dem zurückgetretenen Vorstandschef Hartmut Mehdorn habe die Industrie zu wenig unter Druck gesetzt, Spitzenprodukte zu liefern.

Kommt es wegen der Pannen jetzt zu zusätzlichen Überprüfungen, Zugsausfällen und -verspätungen, hätten dies nicht nur die Mitarbeiter in den Werkstätten auszubaden, sondern auch die Zugbegleiter, die sich mit den verärgerten Fahrgästen auseiandersetzen müssten. „In der Belegschaft gibt es großen Unmut. Die Leute stehen eigentlich sehr positiv zu ihrem Unternehmen und zur Eisenbahn. Auch die jüngeren. Sie sind jetzt aber tieftraurig über die Zustände."

Zu strenge Hierarchien bei der Bahn

Schilff kritisierte, in der Bahn gebe es derzeit zu strenge Hierarchien, die den Führungskräften vor Ort viel zu wenig Spielraum und viel zu enge Budgets ließen. „Da sind gute Leute bei. Wenn man die machen ließe, sähe manches anders aus”.

Das Eisenbahnbundesamt greift unterdessen strikt durch. Innerhalb weniger Wochen hat es in diesem Sommer wegen der aufgetretenen Sicherheitsprobleme mehrere „Allgemeinverfügungen” - das sind Sicherheitsanweisungen - erlassen, an die sich die DB AG wie auch die Privatbahnen halten müssen. Die Notbremse, die das Bonner Amt zieht, kann dabei erhebliche ökonomische Auswirkungen haben. Allein die nach dem schweren Unfall von Viareggio mit bis heute 22 Toten angeordnete Überprüfung der Güterwagenachsen würde bedeuten, dass mehrere zehntausend Fahrzeuge in die Werkstätten müssen und zum Gütertransport nicht zur Verfügung stehen. Nach WAZ-Informationen will das Amt im Herbst eine endgültige Entscheidung fällen. Für Donnerstag waren die Eigner der Güterwagen in die Bonner Amtszentrale zu einer nichtöffentlichen Anhörung bestellt. Auch die EU-Kommission sieht die Notwendigkeit zu handeln. Sie hat für September eine Krisenkonferenz einberufen.

Massive Rauchentwicklung in Frechen

Untersucht wird vom Bundesamt auch noch der Vorgang am 27. Juni in Frechen bei Köln. Dabei hatte es in einem doppelstöckigen Regionalexpress massive Rauchentwicklung gegeben, die durch die Klimaanlage noch verstärkt wurde. 18 Menschen erlitten zum Teil schwere Rauchvergiftungen, auch, weil die Türen nicht automatisch geöffnet wurden. Möglicherweise muss die Bahn jetzt ihr Notfall-Management ändern.

Die Häufung der Zwischenfälle sorgt auch für Warnungen im politischen Bereich. Der Verkehrsexperte der Grünen im NRW-Landtag, Horst Becker: „Die Vorgänge zeigen, dass die Bahn nicht mehr genau so sicher ist wie vor 20 Jahren." Er fordert den Bundesverkehrsminister auf, „endlich und kurzfristig ohne jede Rücksicht alle notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen."