Essen. . Gewerkschaften reagieren kreativ und aggressiv auf die neue, zersplitterte Arbeitswelt. Verdi streikt so oft wie nie. Warum die Mai-Rituale mit dem Alltag der Funktionäre wenig zu tun haben – eine Analyse
Ach, war doch schön gewesen, der 1. Mai. Wetter gut, Grillgut, abends noch das Bayern-Spiel. Perfekt, eigentlich. Den Zwei-Minuten-Einspieler vom Tag der Arbeit mit brüllendem DGB-Boss, roten Fahnen und Mützen in der Tagesschau dürften die meisten verpasst haben. Jedes Jahr fragen Journalisten, ob der Tag der Arbeit nicht aus der Zeit gefallen sei – hinab ins graue Loch der Traditionshuberei.
Die Gewerkschaften widersprechen – und feiern weiter ihre Rituale. Seltsam, das. Schließlich dienen die Gewerkschafter den Rest des Jahres über keineswegs als Staubfänger. Zuletzt fanden in Deutschland so viele Arbeitskämpfe statt wie lange nicht mehr.
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Die Gewerkschaften reagieren längst auf die neue, nicht überall heile Arbeitswelt mit Ausgliederungen, Leiharbeit und Tarifflucht. Sie kämpfen an ganz neuen Fronten und mit neuen Methoden, während ihr Dachverband Jahr um Jahr die alte Platte auflegt, Mindestlohn, höhere Renten und Steuern fordert.
Ringen um Haustarife
Das fordern sie alle, die Metaller, die Verdis und die vom Bau. Doch ihre tägliche Arbeit hat wenig mit großer Politik zu tun. Die Überlebensstrategie der lange totgesagten Großgewerkschaften besteht aus Häuserkampf und dem Aufspüren von Arbeitnehmergruppen, die bisher von niemandem vertreten wurden. Von den 250 Streiks in 2012 fanden die meisten unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, es wurde um Haustarife gerungen, darum, dass einzelne Firmen überhaupt irgendeinen Tarif zahlen.
Die Großkonflikte in der Metallindustrie und dem öffentlichen Dienst geben nach wie vor die Richtung vor, doch immer weniger Menschen in Deutschland werden noch nach einem Flächentarif bezahlt. Im Handel etwa sind zwei von drei Firmen raus. Und für den Rest hat der Arbeitgeberverband sämtliche Verträge mal eben gekündigt.
Verdi kämpft selbst in Sparten
Die neue Arbeitswelt hat die Gewerkschaften auf Trab gebracht.Die IG Metall und IG BCE haben ihre Kampagnen gegen Niedriglöhne in der Leiharbeit von der Kundgebungsbühne an den Verhandlungstisch geholt. Statt noch länger auf die Politik zu warten, haben sie Branchenzuschläge herausgeholt und damit viele neue Mitglieder gewonnen – in einer bisher weitgehend gewerkschaftsfreien Branche.
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Auch Verdi geht in die Offensive. Der große Gemischtwarenladen leidet wie keine zweite Gewerkschaft in Deutschland unter der Zerklüftung der Tariflandschaft. Spartengewerkschaften kämpfen für Ärzte, Lokführer, Piloten und weitere Gruppen, die mit wenigen Streikenden ganze Betriebe lahmlegen und so höhere Löhne durchsetzen können. Das Ende der jahrzehntelang praktizierten Tarifeinheit, die nur einen Tarifvertrag je Betrieb vorsah, begünstigt die Splittergruppen.
Verdis Antwort ist nach anfänglichem Wehklagen der Gegenangriff. Die Großgewerkschaft kümmert sich mehr und mehr selbst um einzelne, auch kleinere Gruppen und nutzt deren Schlagkraft für sich. So wie beim Streik der Sicherheitskräfte an den Flughäfen, beim Bodenpersonal der Lufthansa (aktuelles Ergebnis siehe links), nun bei den Schleusenwärtern der Kanäle.
Lufthansa im Dauer-Tarifstreit
Dazu geht sie verstärkt in die einzelnen Betriebe wie derzeit beim in Ungnade gefallenen Versandhändler Amazon. Dort ist Verdi die mediale Aufmerksamkeit sicher, das hilft im Arbeitskampf. Doch die meisten Streiks bleiben im Dunstkreis einer Firma. Nicht weniger als 188 Streikanträge gingen laut der Hans-Böckler-Stiftung 2012 beim Verdi-Vorstand ein, so viele wie nie. Ähnlich kleinteilig agiert auch die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Streiks wie beim Düsseldorfer Suppenhersteller Zamek, um ihn zurück in den Flächentarif zurückzuholen, haben 2012 in 60 Betrieben stattgefunden.
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Die Vervielfachung der Streikfronten birgt für große Arbeitgeber mit vielschichtigen Belegschaften auch große Probleme. Die Krankenhäuser sehen sich Verdi und Marburger Bund gegenüber, die sich jeweils zu überbieten versuchen. Am häufigsten stecken Fluggesellschaften wie die Lufthansa in Tarifstreits. Für die Vorfeldarbeiter kämpft die GdF, für die Stewardessen Ufo, für das Bodenpersonal Verdi, für die Piloten Cockpit. Hat die Lufthansa sich mit der letzten Berufsgruppe geeinigt, fangen die Verhandlungen mit der ersten schon wieder an.
Auch die Arbeit der Gewerkschafter ändert sich dadurch, zum alten Lagerdenken gesellt sich der Konkurrenzkampf untereinander. Mit Reichensteuer und Rente hat ihr Alltag wenig zu tun. Sie sind um der eigenen Existenz willen gezwungen, sich ständig neu zu erfinden. Die Tradition hilft dabei nicht.