Essen. Pünktlich zum 1. Mai lassen die Gewerkschaften auf großen Kundgebungen die Muskeln spielen. Früher war er Kampftag der Arbeiterbewegung. Doch welche Bedeutung hat er heute? Wir präsentieren zwei sehr unterschiedliche Positionen.
Der 1. Mai ist traditionell „Tag der Arbeit“. Oder besser: Der Feiertag der Arbeiter. Einst war er ein Kampftag, heute ist er ein Feiertag. Einer zum Demonstrieren, zum Diskutieren oder nur zum Faulenzen. Der 1. Mai ist alles andere als ein stiller Tag. Er ist ein Tag der scharfen politischen Auseinandersetzungen, er provoziert und er zieht auch Randalierer an. Aber ist dieser Tag, im Jahre 1886 in den Vereinigten Staaten von Amerika zu Streikzeiten geboren, knapp 130 Jahre später noch zeitgemäß? Oder stellt er heute nur noch ein überkommenes Ritual dar? Denken die Menschen beim Thema 1. Mai noch an rote Nelken oder lieber an Bratwurst, Bier und Ausschlafen? Wir präsentieren an dieser Stelle zwei sehr unterschiedliche Positionen zu diesem umstrittenen Tag der Arbeit. Aufgezeichnet wurden sie von Matthias Korfmann.
Der Falke
Er geht am 1. Mai zur Demo nach Dortmund: Paul M. Erzkamp (30) aus Gelsenkirchen, Landesverband der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken:
"Warum sollte der 1. Mai denn nicht mehr zeitgemäß sein? Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in einer armen Familie auf. Seit 20 Jahren gibt es in Deutschland die Tafeln, das heißt: 20 Jahre Armenspeisung in einem reichen Land.
Schon weit im Vorfeld dieses Tages veranstalten wir Falken in Gelsenkirchen Projektwochen mit Kindern zum 1. Mai. Es geht um zeitlose Themen wie Gerechtigkeit und Solidarität. Wir bereiten uns intensiv auf die Mai-Demo vor.
In diesem Jahr werde ich, der Gelsenkirchener, wohl mit Freunden ausnahmsweise in Dortmund demonstrieren, um dort ein Zeichen gegen einen rechten Aufmarsch zu setzen. Danach, vom 9. bis 12. Mai, freuen wir uns auf das internationale „Workers Youth Festival“ in Dortmund. Dieser Tag ist voller Geschichte.
Seit 1886 gehen an diesem Tag weltweit unterdrückte Menschen auf die Straße. Er lehrt uns, dass man soziale Probleme nicht national lösen kann. Und der 1. Mai ist heute so aktuell, wie er es immer war. 1886 ging es um den Acht-Stunden-Tag. Und heute? Heute schieben viele Angestellte so viele Überstunden vor sich her, dass der Acht-Stunden-Tag für sie wieder eine Illusion ist. In Ostdeutschland bekommen Friseure Hungerlöhne. Viele Menschen arbeiten acht Stunden, und können ihr Leben dennoch nicht selbst finanzieren.
Nein, dieser Kampf für faire Bedingungen geht weiter. Zehn Prozent der Bevölkerung besitzen zwei Drittel der Vermögen. Ist das etwa fair? Vielleicht werden künftige Generationen sagen: Wir brauchen den Maifeiertag nicht mehr. Das wäre dann in Ordnung. Aber heute brauchen wir ihn noch.“
Der Kritiker: Thomas Kolbe
Er macht am 1. Mai seine Steuererklärung: Thomas Kolbe (35) aus Mönchengladbach: Sprecher des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen:
"Traditionen sind kein Selbstzweck. Sie gehören immer wieder auf den Prüfstand. Die Deutschen kleben an ihren Traditionen fest und lassen nicht gerne los. Natürlich gibt es noch immer Armut und Not in der Welt, und ich verstehe gut, wenn Menschen dagegen demonstrieren. Aber hier bei uns?
In Deutschland ist der 1. Mai ein Anachronismus. Er war eine Antwort auf die Missstände des 19. Jahrhunderts. Heute ist der 1. Mai zu einem Funktionärstag verkommen. Die Funktionäre legen so viel Pathos in ihre Stimmen, und sie tun so, als lebten wir noch immer in der Gesellschaft von vorgestern.
Anstatt große Reden zu schwingen, sollten sie sich an diesem Tag lieber ehrenamtlich für ihre Mitmenschen engagieren. In Deutschland gibt es 20 Millionen Ehrenamtliche. In Vereinen, in Verbänden, in Gemeinden. Die hätten einen solchen Ehrentag redlich verdient. Auch die kleinen, selbstständigen Unternehmer und Mittelständler, die dieses Land wirklich voranbringen. Dabei können die sich nicht, wie die Großkonzerne, von der Steuerlast befreien.
Wie wäre es mit einem Tag des Mittelstandes? Der Mut der Selbstständigen, ihre Bereitschaft, etwas Neues zu probieren, wird kaum gewürdigt.
Die Beschäftigungslage in Deutschland ist derzeit gut, jedenfalls im europäischen Vergleich. Die Forderungen, welche die Gewerkschaften in der Vergangenheit gestellt haben, haben sich zu 105 Prozent erfüllt. Wir sollten doch keine Konflikte beschreien, die der Lebenswirklichkeit in den Betrieben gar nicht entsprechen.
Ich beobachte mit Sorge, dass der Maifeiertag immer öfter von Rechtsradikalen für Aufmärsche genutzt wird. Dadurch wird eine soziale Bewegung auch entwertet.“