Brüssel. „Deutschland muss mit dem Bestrafen aufhören“ - mit diesen Worten rügt der belgische Wirtschafts-Professor Paul de Grauwe die Bundesregierung und ihren Kurs in der Euro-Krise. Er fordert: Statt die Südeuropäer als schlecht abzustempeln, solle Deutschland den Staaten in Not stärker helfen.

Deutschland ist bei der Euro-Rettung aus Sicht einiger Ökonomen auf dem Holzweg. Der größte EU-Staat müsse seine Haltung ändern, damit die Europäer die Schulden- und Vertrauenskrise wirklich wirksam bekämpfen könnten, lautet eine Forderung. Einer der Kritiker ist der belgische Wirtschafts-Professor Paul de Grauwe. Er ist ein anerkannter Währungsexperte.

„Deutsche Politiker haben eine zu moralisierende Haltung – nach dem Motto: Wir sind gut, die Südeuropäer sind schlecht und korrupt“, sagte de Grauwe der WAZ-Mediengruppe. „Auch in den Niederlanden und in Finnland ist diese moralisierende Haltung verbreitet.“ Für den Krisenkampf sei das schlecht.

Deutschland sollte Staaten in Not stärker helfen

„Deutschland muss aufhören, die Südeuropäer bestrafen zu wollen“, fordert der Ökonom. „Deutschland muss sagen: Lasst uns zusammen die Krise meistern. Kanzlerin Merkel und die anderen Politiker müssen besser kommunizieren, zum Beispiel warum Deutschland Not leidenden Staaten hilft. Das ist sehr wichtig.“

EuroDeutschland müsse sich bereit erklären, Staaten in Not stärker finanziell zu unterstützen – zum Beispiel Spanien und Italien. „Die Bedingungen, die klamme Euro-Staaten erfüllen müssen, um europäische Notkredite zu erhalten, sind zu streng“, findet de Grauwe. „Das hat zur Folge, dass die Wirtschaftsleistung in diesen Ländern noch stärker sinkt.“ Es sei zugleich sehr wichtig, dass die Europäer die Finanzhilfen nicht bedingungslos gewähren. „Aber die Bedingungen müssten etwas gelockert werden, um die Wirtschaft nicht abzuwürgen.“

Die Finanzkrise spaltet Europa in zwei Teile

De Grauwe macht auf die missliche Situation im Euro-Währungsraum aufmerksam. „Die Investoren an den Finanzmärkten haben Europa in zwei Teile gespalten“, sagt er. „Die südeuropäischen Staaten müssen teils hohe Zinsen zahlen, wenn sie sich Geld an den Finanzmärkten leihen. Die nordeuropäischen Länder dagegen müssen derzeit kaum oder keine Zinsen zahlen, wenn sie Kredit brauchen.“ Diese Zweiteilung Europas sei eine „total abnormale Situation“. Und gefährlich sei sie auch: „Daraus entsteht ein enormer Zwiespalt in der Euro-Zone und enorme politische Probleme.“

Deutschland kann von der Euro-Krise profitieren

Für die Bundesrepublik sei die Krise derzeit „fantastisch“: „Das Geld fällt für Deutschland wie Manna vom Himmel. Noch nie war es für Deutschland so günstig, Geld zu leihen.“ Von Berlin sollte man daher mehr Freigiebigkeit erwarten, sagt der Professor. Doch das Gegenteil sei der Fall: „Es werden Mythen geschaffen, dass die Südeuropäer an das sauer verdiente Geld der Deutschen wollen.“

Auch deutsche Ökonomen schaffen aus Sicht des Belgiers Mythen - zum Beispiel, dass Deutschland klammen Euro-Staaten Geld gezahlt habe. „Deutschland hat Portugal, Irland oder Griechenland aber Kredit gewährt – und erhält dafür von diesen Ländern Zinszahlungen“, betont de Grauwe. „Es ist damit total falsch, dass die Steuerzahler in Deutschland für kriselnde Staaten zahlen müssen.“ Griechenland überweist laut dem Bundesfinanzministerium für die Notkredite dieses Jahr nach Berlin etwa 290 Millionen Euro Zinsen.

Deutsche müssten mehr Geld verdienen und ausgeben 

Deutschlands Verhalten in der Euro-Krise sei auch aus anderen Gründen problematisch, sagt de Grauwe. „Deutschland sieht nicht wirklich ein, dass die wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euro-Raum auch daher kommen, dass die Bundesrepublik mehr produziert, als sie konsumiert.“ Das müsse sich ändern. „Deutschland müsste seine Ausgaben steigern. Sonst drohen sich die wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa weiter zu verstärken.“ Der Ökonom rät deutschen Politikern, den Konsum anzukurbeln.

Der belgische Wirtschaftsprofessor Paul de Grauwe

Paul de Grauwe (66) lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Katholischen Universität der belgischen Stadt Löwen. Zudem lehrt er in Großbritannien an der London School of Economics. Der studierte Volkswirtschaftler gilt als geistiger Weggefährte des bekannten US-Ökonomen Paul Krugman.

De Grauwe hat zahlreiche Gastprofessuren in diversen Staaten innegehabt, auch in Deutschland - unter anderem an den Universitäten in Kiel, Saarbrücken und Berlin. Der Wissenschaftler machte auch Ausflüge in die Politik. In seiner belgischen Heimat saß er in den 1990-er Jahren im Parlament.

„Zugleich müssten die Löhne steigen. Das passiert schon teilweise“, sagt de Grauwe mit Blick auf die jüngsten Tarifabschlüsse. „Nicht allein die Kapitalisten – Anteilseigner oder Unternehmer - sollen von der hohen Produktivität der Wirtschaft profitieren, sondern auch die Arbeitnehmer.“

Die Europäische Zentralbank müsste sich in die Euro-Rettung stärker einschalten

Der belgische Wirtschafts-Professor kritisiert nicht nur Deutschland, sondern auch die oberste Euro-Hüterin: die – politisch unabhängige - Europäische Zentralbank (EZB). „Aus meiner Sicht muss die EZB eine wichtigere Rolle im Krisenkampf spielen. Sie muss stärker direkt oder indirekt eingreifen.“ Seine Forderung erklärt de Grauwe so: „An den Finanzmärkten herrscht Panik. Einige Staaten geraten so in einen Teufelskreis, zum Beispiel Spanien.“ Besorgte Investoren zögen Geld aus Spanien ab – und investierten es unter anderem in Deutschland. Zugleich müsse die spanische Regierung sparen.

In diesem Jahr zogen besorgte Investoren laut Spaniens Zentralbank bisher 163 Milliarden Euro aus Spanien ins Ausland ab. Damit verließ schon jetzt mehr Kapital das Land als im gesamten vorigen Jahr. „Die EZB ist die einzige, die die Panik an den Finanzmärkten stoppen kann“, sagt de Grauwe. „Sie ist die einzige Institution, die unbegrenzt Geld leihen .“ Die EZB müsse Schuldverschreibungen von Euro-Sorgenstaaten an den Finanzmärkten kaufen. „Sie könnte das aber auch indirekt tun – über den Euro-Rettungsfonds, wenn er bei ihr Geld borgen könnte.“

Deutsche Angst vor Inflation ist schädlich 

Der Ökonom weiß aber auch: „Deutschland ist total gegen diese Rolle der EZB.“ Die Deutschen hätten Angst vor Inflation, wenn die EZB Geld drucke. „Aber sie vergessen, dass sich an den Finanzmärkten Panik breit gemacht hat.. Momentan besteht eher das Risiko einer Deflation als das einer Inflation.“ Bei einer Deflation sinken die Preise stetig, da die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen erlahmt. Das lässt die Wirtschaftsleistung eines Landes schrumpfen.

De Grauwe hält die rechtlichen Bedenken Deutschlands bei einer geänderten Rolle der Europäischen Zentralbank für unnötig: „Das Argument der Deutschen ist falsch, die EZB würde gegen den EU-Vertrag verstoßen.“ Seine Begründung: „Die EZB darf lediglich Regierungen nicht direkt Geld borgen. Sie darf aber an den Finanzmärkten staatliche Schuldverschreibungen kaufen.“

Die Europäische Zentralbank ist die Feuerwehr der Eurozone

Ein anderes Argument der Deutschen hält der Wirtschaftswissenschaftler dagegen für plausibel: den „moral hazard“. Dahinter steckt die Idee, dass ein Staat so schlecht weiter haushaltet wie bisher, wenn er trotzdem günstig Geld borgen kann - der Anreiz, die Staatsfinanzen zu sanieren, sinkt.„Daher ist es wichtig, dass in Europa strikte Haushalts-Vorgaben und Disziplinierungs-Möglichkeiten gelten“, sagt de Grauwe. „Die EU-Kommission oder der EU-Rat müssen dafür sorgen, dass die einzelnen Staaten gut mit dem Geld ihrer Steuerzahler wirtschaften.“

De Grauwe vergleicht die momentane Rolle der EZB mit der Feuerwehr. „Wenn ein Haus brennt, wird die Feuerwehr gerufen. Sie muss den Brand löschen. Und darf nicht sagen, der Hausbesitzer sei selbst schuld, dass sein Haus brenne“, sagt er. „Nicht die Feuerwehr, sondern die Polizei sollte der Brandursache auf den Grund gehen. Die Rolle der Polizei müsste zum Beispiel die EU-Kommission übernehmen.“