Essen. Thomas Straubhaar, der Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), im Interview: Der Ökonom fordert neue Lohn-Modelle.
Wenn von der schrumpfenden und alternden Gesellschaft die Rede ist, stehen oft die Probleme im Vordergrund. Thomas Straubhaar, der Chef des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI), warnt davor, die Folgen des demografischen Wandels in Deutschland zu dramatisieren. „Die schrumpfende Bevölkerung ist in der Tat eher eine Chance als ein Problem“, sagte Straubhaar am Rande des „Politischen Forums Ruhr“ in der Messe Essen, wo der Professor vor etwa 1900 geladenen Gästen sprach.
Damit der demografische Wandel „seinen Schrecken verliert“, müsse allerdings das vorhandene Potenzial an Arbeitskräften besser genutzt werden, so Straubhaar. Bei der Bezahlung von Mitarbeitern solle „nicht Anwesenheit, sondern Leistung“ belohnt werden. „Das würde den Beschäftigten in verstärktem Masse ermöglichen, Arbeitszeit und Arbeitsort nach eigenem Gutdünken zu wählen, solange die Ergebnisse stimmen. Die alleinerziehende Mutter könnte dann vermehrt von zu Hause aus, in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden ihr Pflichtenheft abarbeiten.“
Sie warnen davor, die Folgen des demografischen Wandels zu dramatisieren. Warum?
Straubhaar: Die schrumpfende Bevölkerung ist in der Tat eher eine Chance als ein Problem. Denn: Sollten wir uns nicht freuen, dass wir dann mehr Platz und weniger Staus haben werden? Dass wir nicht mehr die flächenfressende Betonierung fürchten müssen und mehr naturbelassene Landschaften genießen können? Die Rechnung ist doch ganz einfach und in jedem Ökonomielehrbuch ausführlich behandelt: Alle heutigen Straßen, Parkplätze, Krankenhäuser, Studienplätze, Schwimmbäder, Freizeiteinrichtungen und Naherholungsgebiete – kurz: alle Infrastrukturanlagen und Ressourcen – müssen von weniger Menschen geteilt werden. Für den Einzelnen wird mehr von allem zur Verfügung stehen.
Woher nehmen Sie den Optimismus?
Straubhaar: Nehmen Sie den Faktor Zeit. Qualität geht vor Quantität. Bei rückläufigen Geburtenzahlen sollten die wenigen Kinder, die noch geboren werden, mehr Zuneigung erfahren. Eltern haben für Einzelkinder mehr Zeit, sie können ihr Budget für Erziehung und Ausbildung auf das eine Kind konzentrieren. Somit sind zumindest die Voraussetzungen günstig, dass künftig die Kinder besser gebildet sein sollten, was das langfristige Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft vergrößert.
Es gibt allerdings auch Regionen, die zu den Verlierern des demografischen Wandels zählen werden…
Straubhaar: Richtig ist, dass es wohl vor allem auf dem flachen Lande zu einer Erosion der Bevölkerung kommen wird. Aber: Wieso müssen und sollen überall im gesamten Bundesgebiet Menschen wohnen und leben? Wieso fördern wir nicht die Wanderung in die Kerne und akzeptieren, dass periphere Räume wenig bis unbesiedelt bleiben? Das Schrumpfen der deutschen Bevölkerung könnte zum Rückzug des Menschen aus der Fläche führen. Darüber sollten wir uns freuen und nicht grämen!
Wie sollten sich die Unternehmen auf den demografischen Wandel einstellen?
Straubhaar: Damit der demografische Wandel seinen Schrecken verliert, gibt es nur einen Ausweg: Wir müssen künftig die vorhandenen Potenziale an Humankapital besser nutzen. Ungenutztes Potenzial findet sich bei Menschen, die gerne arbeiten würden, aber aus verschiedenen Gründen nicht arbeiten können – insbesondere Frauen, Ältere und Menschen mit Migrationshintergrund. Werden die ungenutzten Potenziale gehoben, trifft man zwei Fliegen mit einem Schlag. Denn der Kampf gegen Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit ist eben nicht nur ein Kampf für Vollbeschäftigung. Er ist auch ein Kampf gegen den Fachkräftemangel. Gelingt es, Ältere so gut in das Erwerbsleben zu integrieren wie Jüngere, Frauen so gut wie Männer und Menschen mit Migrationshintergrund so gut wie Menschen ohne Migrationshintergrund, dann verringert sich der Fachkräftemangel dramatisch.
Wird das Thema in den Betrieben erkannt?
Straubhaar: Mittelständische Betriebe haben die riesige Chance, besser als schwerfälligere Großkonzerne durch ein kluges Personalmanagement maßgeschneiderte Lösungen für ihre Belegschaften zu entwickeln und damit ungenutzte Potenziale heben. Insbesondere können sie durch hoch flexible Arbeitszeit- und Arbeitsplatzmodelle das immense Potenzial der stillen Reserven ausschöpfen. Denn aller guter Vorsätze und Sonntagsreden zum Trotz bleiben Frauen, Ältere und Erwerbsfähigen mit einem Migrationshintergrund im Arbeitsalltag systematisch und nachhaltig draußen, wenn es um ökonomische Teilhabe geht. Beispiel Frauen: Sie sind heute im Durchschnitt besser ausgebildet als Männer. Sie machen häufiger Abitur, erreichen bessere Noten und schließen genauso oft ein Studium ab. Dennoch sind Frauen auf dem Arbeitsmarkt weniger erfolgreich. Sie sind kaum in Führungspositionen zu finden.
Braucht Deutschland mehr Zuwanderung, um einen Fachkräftemangel zu vermeiden?
Straubhaar: Viele Menschen mit Migrationshintergrund leben heute schon in Deutschland, und sie finden nicht jene Jobs, die ihrem Können und Wollen entsprechen. Obwohl in Deutschland geboren und hier zur Schule gegangen, bleiben sie – bei gleichen Abschlüssen und Qualifikationen – häufiger erwerbslos als ihre deutschen Schulkollegen. Es kommt dazu, dass mit der seit dem 1. Mai 2011 auch gegenüber den osteuropäischen EU-Ländern gewährten Freizügigkeit eh das Reservoir an Fach- und Führungskräften größer geworden ist. Zusammengenommen wären hierzulande und in den EU-Nachbarländern unzählige Menschen bereit, in Deutschland mehr und anspruchsvoller zu arbeiten, als das heute der Fall ist. Es ist in jeder Beziehung eine kostengünstigere und effizientere Strategie, die bereits in Deutschland lebenden Ausländer der zweiten und dritten Generation besser in die deutsche Gesellschaft und Arbeitswelt zu integrieren, als demografische Probleme durch den Zuzug „neuer“ Ausländer beheben zu wollen.
Müssen die Job-Chancen von Frauen verbessert werden?
Straubhaar: Die Erwerbsbeteiligung der Frauen in Deutschland ist stetig gewachsen. Sie ist jedoch weiterhin deutlich geringer als bei den Männern. Es sind vor allem die Frauen, die ihren Beschäftigungsgrad bei der Geburt eines Kindes reduzieren. Dabei würde es sich lohnen, die Voraussetzungen zu verbessern, damit Frauen verstärkt dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Dazu gehören betriebliche Rahmenbedingungen, die Leistung und nicht Anwesenheit belohnen und es ermöglichen, ort- und zeitunabhängig Aufträge zu erledigen. Und dazu gehören verlässliche Ganztagesschulen mit Mahlzeiten, qualifizierten Aufgabenhilfen und nachmittäglichen Förder- und Freizeitangeboten für die Kinder. Einiges ist dafür zu tun. So gilt es seitens der Unternehmen, Arbeitszeiten und Arbeitseinsätze so zu flexibilisieren, dass Frauen bessere Chancen haben, Fach- und Führungsaufgaben zu übernehmen.
Stimmt die Einstellung der Arbeitgeber?
Straubhaar: Entscheidend ist ein Perspektivenwechsel der Arbeitgeber. Veraltete, historisch geprägte Rollenbilder von Arbeit, Beruf und Familie müssten durch zeitgerechte, der heutigen Wirklichkeit entsprechende Verhaltensweisen ersetzt werden. So sollten bei der Bezahlung der Belegschaften nicht Input, sondern Output, also nicht Anwesenheit, sondern Leistung belohnt werden. Das würde den Beschäftigten in verstärktem Maße ermöglichen, Arbeitszeit und Arbeitsort nach eigenem Gutdünken zu wählen, solange die Ergebnisse stimmen. Die alleinerziehende Mutter könnte dann vermehrt von zu Hause aus, in den frühen Morgen- oder späten Abendstunden ihr Pflichtenheft abarbeiten.
Sie fordern auch eine Runderneuerung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland - hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Wie soll das funktionieren?
Straubhaar: Korrekturen innerhalb des bestehenden sozialen Sicherungssystems rufen immer neue Probleme hervor. So verdrängen öffentlich finanzierte Arbeitsgelegenheiten reguläre Beschäftigung. Zum Anderen kommt der heutige Sozialstaat immer mehr an seine finanziellen Belastungsgrenzen. Viele Erwerbstätige, die heute Renten oberhalb der Mindestsicherung finanzieren, werden später selbst nur noch eine Mindestrente erhalten. Generationengerechtigkeit und der Grundsatz Alterslohn für Lebensleistung sind so nicht mehr gegeben. Deshalb brauchen wir einen Systemwechsel hin zu einer steuerfinanzierten Grundsicherung für alle, hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen. Die Idee ist folgende: Der Staat gewährleistet allen Bürgern vom Säugling bis zum Greis lebenslang ein existenzsicherndes monatliches Einkommen. Dieses Grundeinkommen wird ohne bürokratischen Aufwand als sozialpolitischer Universaltransfer ausbezahlt. Alle erhalten das Grundeinkommen, unabhängig ob jung oder alt, beschäftigt oder arbeitslos, verheiratet oder Single.
Wie hoch sollte das Grundeinkommen sein?
Straubhaar: Im Vergleich zum heutigen System aus Einkommenssteuern, Sozialabgaben und verschiedenen Formen von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld ist das System des Grundeinkommens eine enorme Vereinfachung: Jeder Bürger bekommt einmal im Monat einen fixen Betrag überwiesen, der für alle gleich ist. Jeder, der darüber hinaus Geld verdient, zahlt von diesem Geld einen fixen Steuersatz, der ebenfalls für alle gleich ist. Möglich wäre zum Beispiel ein Grundeinkommen von 600 Euro – um das zu finanzieren müssten alle selbst verdienten Einkommen mit einem Brutto-Steuersatz von 50 Prozent belastet werden. Um eine Krankenversicherung muss sich im Prinzip jeder selbst kümmern. Wer alt ist, kann statt von der Rente von seinem Grundeinkommen leben. Wer mehr vorsorgen möchte, muss dafür selbst bezahlen.
Würde durch ein bedingungsloses Grundeinkommen Faulheit praktisch belohnt?
Straubhaar: Das mag sein. Das wird es geben. Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Disziplinen – von der Glücksforschung bis zur Verhaltensforschung – lassen jedoch vermuten, dass der Mensch nicht ein notorischer Drückeberger ist, sondern sich immer in irgendeiner Form nützlich machen und das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Verpflichtung erfahren will. Natürlich gibt es Ausnahmen. Sie werden jedoch in jedem gewählten Sozialstaatsmodell gleichermaßen zu Problemfällen. Aber auch im aktuellen System muss man sich um diese Menschen kümmern. Und wenn jemand nicht arbeiten will, kriege ich ihn auch nicht mit dem Grundeinkommen zum Arbeiten. Aber wir sollten auch keine Gesetze machen, die für den Einzelfall sind, sondern für die Masse der Menschen. Und die will arbeiten und die will selbständig sein und nicht ein Leben lang abhängig von Staatsknete.