Essen. Thyssenkrupp, Ford, Evonik: Industriekonzerne streichen Tausende Stellen. Darum sollten Scholz und Merz bei Merkel und Steinbrück nachlesen.
Thyssenkrupp trennt sich von 11.000 Beschäftigten, Evonik von 7000, Ford von fast 3000, und wie viele bei den Zulieferern hinzukommen, lässt sich nur erahnen. Deutschland steckt in einer Industriekrise, NRW und das Ruhrgebiet ganz besonders. Und der Ausblick ist düster: Schon in diesem Jahr hat die Industrie in NRW fast 20.000 Stellen verloren, doch die angekündigten Einschnitte kommen erst noch. Gelegenheiten, das auf Rednerbühnen zu beklagen und die Bedeutung der Industrie zu betonen, hatten geneigte Politiker genug. Es wird Zeit, dass sie etwas tun.
Bundes- und Landesregierung laufen der Entwicklung hinterher. Deutschlands Wirtschaft wird 2024 das zweite Jahr in Folge schrumpfen, die Prognosen für das kommende Jahr werden nach und nach gesenkt - mit der Tendenz zur Stagnation. Um das richtig einzuordnen: Weder in der großen Finanzkrise 2008/09 noch in der Corona-Krise musste die Wirtschaft eine so lange Talfahrt überstehen. Doch während der Staat in beiden Krisen schnell und massiv gegensteuerte, gönnt sich die Politik diesmal eine Pause. Mit jedem Tag und jeder Hiobsbotschaft wird klarer, wie unverantwortlich das war.
Die Bundespolitik gönnt sich eine halbjährige Pause, zu lang für die Industrie
Man muss die Ampel nicht gemocht haben, um das falsch zu finden: Die Bundesregierung hat sich aufgelöst und damit dem Land ein halbjähriges Machtvakuum beschert, in dem sich nichts bewegen wird, schon gar nicht zum Guten. Gegen die globale Nachfrageschwäche für deutsche Autos, Maschinen und Chemieprodukte kann eine Regierung wenig tun. Doch sie kann und muss ihre Bedingungen verbessern, vorneweg die Energiekosten senken. Scholz, Habeck, Merz - jeder will und verspricht das. Doch faktisch geschieht nun monatelang nichts, und das wird die Tendenz zur Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland weiter verstärken.
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Über den richtigen Weg lässt sich trefflich streiten. SPD und Grüne etwa sind für einen Industriestrompreis. Die Union ist dagegen und will die Steuern und damit die Energiepreise für alle senken. Die Finanzierung ist offen, was schlecht ist, weil dies für den Staat deutlich teurer würde. Der Industrie ist inzwischen aber fast egal, auf welche Weise sie entlastet wird, Hauptsache, es passiert endlich irgendwas.
Nun hat jede Branche auch ihre eigenen Probleme von sehr unterschiedlicher Dramatik. Bei Thyssenkrupp fallen Arbeitsplätze weg, weil die Stahltochter wirklich ums Überleben kämpft. Evonik dagegen verdient mit seinen Spezialchemie-Produkten nach wie vor gutes Geld. Der Essener Konzern will die meisten der 7000 Stellen nicht streichen, sondern auslagern. Dies, um seine gute Rendite noch besser zu machen, was man verwerflich finden kann, im Wettlauf mit der globalen Konkurrenz aber nicht ungewöhnlich ist. Doch so unterschiedlich Motive und Ausgangslagen auch sein mögen - unterm Strich kommt es aufs Gleiche heraus: Die Industrie in NRW und dem Ruhrgebiet schrumpft weiter.
Wüst und Neubaur müssen eine gemeinsame Haltung zur Industriepolitik finden
Die schwarz-grüne Landesregierung kann die Politikpause in Berlin nicht füllen, kann keinen Einfluss auf die Energiepreise nehmen. Doch sie könnte und müsste klar sagen, wie sie sich die richtige Industriepolitik vorstellt. Scholz tourt durch die Krisenkonzerne und gelobt, die Arbeitsplätze durch Staatshilfen und notfalls auch durch einen Staatseinstieg etwa bei Thyssenkrupp retten zu wollen. Merz ist dagegen und will als Kanzler auf allgemeine Steuer- und Kostenerleichterungen und im Nachgang auf die heilende Kräfte des Marktes setzen. Was will das Land? Finden Wüst und Neubaur hier eine gemeinsame Haltung? Und wagt es Wüst, seinem ungeliebten Parteichef Merz auch im Wahlkampf zu widersprechen?
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Klar ist: Der Staat kann nicht alle Unternehmen und alle Arbeitsplätze retten. Grundsätzlich lohnt es aber, sich die erfolgreiche Krisenpolitik der Finanzkrise unter Merkel und Steinbrück sowie die ordentliche Krisenpolitik in der Corona-Krise ins Gedächtnis zu rufen. In beiden Fällen hatte der Erhalt der Arbeitsplätze absoluten Vorrang. Und in beiden Fällen handelten viele Politiker auch aus CDU und FDP gegen ihre marktliberale Grundüberzeugung, retteten Firmen und setzten auch Nachfrageimpulse.
Verlängertes Kurzarbeitergeld und andere Hilfen werden diesmal nicht reichen
Der Unterschied zu heute ist: Die Unternehmen haben selbst alles dafür getan und es sich auch etwas kosten lassen, ihre Fachkräfte zu halten, einfach weil sie wussten, wie schwer die inzwischen zu finden sind. Nach der Finanzkrise startete deshalb die deutsche Wirtschaft durch und kam besser in Schwung als alle anderen Industrieländer. Diesmal geht die Krise in vielen Konzernen so tief, dass sie massenhaft Arbeitsplätze streichen. Vor allem Autobauer und Stahlindustrie fürchten zudem, dass Trumps Zollmauer ihre Krise weiter verschärft.
Deshalb werden Hilfen des Staates wie etwa ein verlängertes Kurzarbeitergeld diesmal nur wirken, wenn gleichzeitig die Standortnachteile endlich entschieden angegangen werden. Allen voran die hohen Energiepreise.