Essen. Krise hat 20.000 Industriejobs in NRW gekostet. Weil nicht nur Thyssenkrupp Stellen streicht, droht Zuspitzung. Was der Bundesagentur-Chef rät.
Lange hat der Arbeitsmarkt der Wirtschaftskrise getrotzt, doch inzwischen gehen durch die anhaltende Rezession viele Jobs in Nordrhein-Westfalen verloren. Die Arbeitslosigkeit ist 2024 im Jahresdurchschnitt um rund 36.000 auf 746.300 gestiegen, wie die Bundesagentur für Arbeit (BA) in NRW am Donnerstag mitteilte. Das waren im Vergleich zum Vorjahr 5,1 Prozent mehr.
In der Krise steckt vor allem das verarbeitende Gewerbe, die Industrie schwächelt: Hier gingen in den vergangenen Monaten unterm Strich mehr als 19.000 Arbeitsplätze verloren. Und in der Düsseldorfer NRW-Zentrale der BA geht man davon aus, dass sich die Talfahrt der heimischen Industrie weiter fortsetzt, weil zuletzt landesweit Unternehmen den Abbau von Personal angekündigt hätten. Ein Indikator für zu befürchtenden weiteren Stellenabbau ist zudem die wieder steigende Zahl an Kurzarbeitern, ebenfalls vor allem in der Industrie.
BA-Chef: Thyssenkrupp muss den Startschuss geben, wir stehen Gewehr bei Fuß
Allein Thyssenkrupp hat angekündigt, in seiner Stahlsparte 5000 Stellen streichen und weitere 6000 auslagern zu wollen, was nicht selten ebenfalls mit einer Ausdünnung der Personaldecke verbunden ist. Ford streicht in Köln 2900 Arbeitsplätze. Roland Schüßler, Chef der BA-Regionaldirektion NRW, betonte, die Arbeitsagenturen stünden sowohl in Köln als auch in Duisburg und an den anderen Thyssenkrupp-Standorten bereit zu helfen. Zum Stahlkonzern fügte er an: „Hier ist richtiges Timing gefragt. Thyssenkrupp muss den Startschuss geben, wir stehen Gewehr bei Fuß.“
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Allerdings wies er mehrfach daraufhin, dass es in der aktuellen Lage schwieriger als früher sein werden, Menschen, die einen Industriearbeitsplatz verlieren, auch wieder in der Industrie unterzubringen. Eine Chance für scheidende Thyssenkrupp-Beschäftigte sei es aber zum Beispiel, ins Handwerk zu wechseln, wo es noch vergleichsweise viele freie Stellen gibt. Das unterstrich auch Arbeitgeberpräsident Arndt Kirchhoff, der wie DGB-Landeschefin Anja Weber die BA-Jahresbilanz flankierte. Weniger Sorgen macht er sich um die Ford-Beschäftigten, weil im rheinischen Revier mit den Strukturwandel-Initiativen im Zuge des Abschieds von der Braunkohle viele neue Arbeitsplätze entstehen würden.
Schüßler ist nicht bekannt für alarmistische Töne. Umso mehr Gewicht erhält diese Aussage von ihm: „Die Lage am NRW Arbeitsmarkt ist ernst. Unternehmen suchen schon im zweiten Jahr nacheinander deutlich weniger Arbeitskräfte. Wer arbeitslos wird, hat es aktuell schwer, wieder einen neuen Job zu finden.“ Die Ankündigungen vor allem aus der Industrie, weiter „Stellen in großem Umfang“ abbauen zu wollen, nennt Schüßler „sehr beunruhigend“ und „eine bedrückende Situation“. Er betonte, der Verlust von Industriearbeitsplätzen ziehe auch weiteren Stellenabbau bei den Zulieferern und letztlich auch im Handel nach sich.
DGB-Chefin Weber: „Viele Menschen haben große und berechtigte Existenzsorgen“
„ Viele Menschen plagen vor Weihnachten große und leider berechtigte Existenzsorgen“, sagte DGB-Landeschefin Weber. Wie wichtig die Industrie für Nordrhein-Westfalen sei, müsse wieder stärker in den Fokus rücken. Dabei sei Thyssenkrupp „nur die Spitze des Eisbergs“, sie wisse von vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen, die ebenfalls in Schwierigkeiten steckten. Weber fordert von der Politik ein „entschlossenes Handeln und bessere Rahmenbedingungen“ für den Industriestandort NRW - vor allem „mehr öffentliche Investitionen in Infrastruktur“ und „bezahlbare Strompreise“.
Arbeitgeberpräsident Kirchhoff warnte: „Es wäre auch eine Illusion zu glauben, dass etwa ein Rückgang der nordrhein-westfälischen Industrieproduktion von rund einem Fünftel gegenüber 2018 spurenlos bleiben könnte“ und forderte: „Wir brauchen eine wirtschaftspolitische Trendwende, damit Arbeit, Wohlstand, soziale Sicherheit und gesellschaftlicher Zusammenhalt in unserem Land weiterhin Bestand haben.“ Neben Bürokratieabbau, niedrigeren Energiepreisen und Infrastrukturoffensiven fordert Kirchhoff auch, die Sozialbeiträge „wieder auf 40 Prozent zu begrenzen“.
Kirchhoff: Sozialbeiträge wieder auf 40 Prozent deckeln
Zum Jahresbeginn drohen vor allem deutlich höhere Krankenkassenbeiträge, die etwa bei der Bochumer Knappschaftskasse erstmalig die Rentenbeiträge überholen werden. So wird ihr Krankenkassenbeitrag auf insgesamt 19 Prozent steigen, der Rentenbeitrag liegt bei 18,6 Prozent. Die Pflegeversicherung wird um 0,2 Prozentpunkte teurer und kostet ab 2025 3,6 Prozent vom Bruttolohn. Mit dem Arbeitslosenbeitrag von 2,6 Prozent. Wer bei der Knappschaft krankenversichert ist, für den steigen die Sozialbeiträge insgesamt auf 43,8 Prozent, hälftig zu zahlen von Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Zuletzt lagen die Sozialbeiträge zum Ende der Ära Kohl Ende des vergangenen Jahrhunderts ähnlich hoch.
Schüßler betonte, vor allem geringqualifizierte Menschen hätten es derzeit schwer, einen Job zu finden. Fast 80 Prozent der aktuell offenen Stellen richteten sich an Menschen mit einer beruflichen oder höheren Ausbildung, während fast 60 Prozent der arbeitslos gemeldeten Menschen nicht über ausreichende Qualifikationen verfügten.
NRW-Arbeitgeber schreiben deutlich weniger offene Stellen aus
Allerdings hätten sich die Aussichten auch für Fachkräfte im Laufe des Jahres eingetrübt: Insgesamt lag das aktuelle Stellenangebot im November um 6,8 Prozent oder annähernd 10.000 offene Stellen unter dem Vorjahr. Die Arbeitgeber seien aktuell sehr zurückhaltend mit der Ausschreibung neuer Stellen.
Einziger Lichtblick aus Sicht der Bundesagentur: Die Integration geflüchteter Menschen sei 2024 vorangekommen. Im September gingen rund 195.500 geflüchtete Menschen einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung in NRW nach. Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hätten in NRW 77.000 Menschen aus der Ukraine oder einem anderen Asylherkunftsland eine Arbeit aufnehmen können, erklärte Schüßler. Dennoch müsse man die Integration geflüchteter Menschen in den Arbeitsmarkt weiter beschleunigen und vor allem darauf achten, dass sie gemäß ihrer Qualifikation eingestellt werden.