Essen. Ruhrgebietsstädte haben erstmals ausgerechnet, wie teuer die Reaktivierung alter Industriebrachen wird. Hilfe von Land und Europa nötig.
Das Ruhrgebiet steckt in einem Dilemma. Es könnte deutlich mehr Unternehmen ansiedeln und Arbeitsplätze schaffen als bislang. Doch es fehlen Altlasten-freie Gewerbeflächen, und für die Sanierung dieser kontaminierten Industriebrachen fehlt den Städten schlichtweg das Geld. Seit Jahren wird ein Ausweg gesucht – bislang ohne Erfolg. Immerhin gibt es inzwischen eine Zahl, die den gewaltigen Finanzierungsbedarf greifbar macht.
Der Vorrat an baureifen Flächen vor allem im Kernruhrgebiet, auf denen sich Unternehmen ansiedeln oder erweitern können, schrumpft von Jahr zu Jahr. Nachdem die Business Metropole Ruhr (BMR) vor einigen Wochen neueste und noch einmal schlechtere Zahlen als im Jahr zuvor präsentiert hatte, platzte dem Duisburger Wirtschaftsförderer Rasmus Beck der Kragen. „Ich finde es bedenklich, dass in den Ruhrgebietsstädten die Gewerbeflächennot immer weiter zunimmt“, sagte er unserer Redaktion und forderte: „Es muss wieder einen umsetzungsorientierten Gesprächsfaden geben, wie wir dieses Problem strategisch gemeinsam in der Region lösen können.“
Kritik aus Duisburg: Um Brachflächen ist es ruhig geworden
Haben sich die Revierstädte etwa ernüchtert mit ihrem Schicksal abgefunden? So weit will Beck, der selbst viele Jahre lang BMR-Geschäftsführer und damit für das gesamte Ruhrgebiet zuständig war, nicht gehen. Seine Ungeduld aber wächst, wenn er sagt: „Um das Thema Brachflächen-Entwicklung und seine Finanzierung ist es aktuell ruhig geworden – auch weil sie teuer und in vielen Fällen nicht rentierlich ist. Dabei gibt es gute Finanzierungsmodelle und auch praktische Erfahrungen, die man aufgreifen kann.“
Eines der Zauberworte heißt Grundstücksfonds NRW, das unlängst auch die beiden Vorsitzenden der nordrhein-westfälischen SPD, Sarah Philipp und Achim Post, im WAZ-Interview ins Spiel gebracht haben. Aus dem vor Jahren geschlossenen Fördertopf wurden Projekte mit Strahlkraft finanziert – darunter das riesige Gewerbegebiet Phoenix West in Dortmund und der Gelsenkirchener Hafen und der Landschaftspark Nord in Duisburg.
Forderungen nach einem Grundstücksfonds Ruhr
Mit der Idee einer Wiederbelebung des Grundstücksfonds laufen die Spitzen-Genossen im Ruhrgebiet offene Türen ein. „Ein Grundstücksfonds könnte die Kommunen rasch in die Lage versetzen, Industriebrachen zu erwerben. Ein Anteil der Verkaufserlöse fließt am Ende in den Fonds zurück. Sein Volumen wird aber trotzdem langsam schrumpfen, weil es keine Rendite gibt“, skizziert BMR-Geschäftsführer Jörg Kemna das Konzept.
Und er nennt erstmals eine gewaltige Zahl, mit wie viel Geld der Grundstücksfonds gefüllt werden müsste, um allein die Industriebrachen im Ruhrgebiet zu erwerben, von Altlasten zu befreien und mit Straßen und Versorgungsleitungen zu erschließen: Nach Angaben von Kemna sind es 735 Millionen Euro für die nächsten zehn Jahre. „Die große Frage ist natürlich, wo das Geld herkommt“, sagt Kemna. „Bei der NRW-Landesregierung haben wir bislang wenig Bereitschaft gesehen. Trotzdem werden wir die Notwendigkeit eines Grundstücksfonds für das Ruhrgebiet und ganz NRW wieder an die Landesregierung herantragen.“
Revier-Oberbürgermeister wollen EU-Kommission um Hilfe bitten
Die Revierstädte denken bereits weit über die Landesgrenzen hinaus. „Anfang des Jahres wollen wir als Ruhr-Oberbürgermeister der Europäischen Kommission in Brüssel verdeutlichen, dass ohne die Sanierung von Industriebrachen im Ruhrgebiet keine neuen Grünflächen geschaffen werden können. Das ist aber der Wunsch der EU. Deshalb sollte auch die EU Fördermittel für die Flächensanierung bereitstellen“, sagt Dortmunds OB Thomas Westphal (SPD) im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Termin soll am 29. und 30. Januar stattfinden.
Westphal setzt aber auch auf eine deutsche Lösung. „Die Idee eines Grundstücksfonds in NRW war immer richtig. Ohne Mittel daraus hätten wir Phoenix West gar nicht entwickeln können“, erklärt der Sozialdemokrat, der selbst viele Jahre als Wirtschaftsförderer tätig war. Auch wenn die Gewerbeflächennot in Dortmund aktuell weniger akut ist als im westlichen Ruhrgebiet, mahnt Westphal: „Kurzfristig gibt es in Dortmund noch ausreichend Gewerbeflächen. Mittel- und langfristig wird es aber eng.“ In der Stadt gebe deshalb bereits „eine muntere Diskussion um die Nutzung von Freiflächen. Das ist natürlich umstritten.“
Deutlich angespannter ist die Lage in Essen. „Der Bedarf an Grundstücken von kleinen und mittelständischen Unternehmen aus den verschiedensten Branchen zur eigenen Nutzung übersteigt das aktuelle und zukünftige Angebot um ein Vielfaches“, sagt Andre Boschem. Der Geschäftsführer der Essener Wirtschaftsförderung EWG sieht in seiner Stadt zwar ein Flächenpotenzial von 99 Hektar. Dazu gehören das ehemalige Zechengelände Emil Emscher an der Stadtgrenze zu Bottrop und der geplante Forschungs- und Innovationscampus Thurmfeld nördlich der Essener Innenstadt.
„Allerdings steht der Großteil dieser Flächen voraussichtlich erst ab dem Jahr 2027 oder nach 2030 zur Verfügung“, schränkt er ein. Der Sanierungsaufwand sei sehr hoch. „Die damit verbundenen, nicht rentierlichen Kosten übersteigen die finanziellen Möglichkeiten der Stadt Essen bei Weitem“, sagt Boschem. „Ohne finanzielle Unterstützung durch entsprechende Fördermittel zur Aufbereitung von mit Restriktionen versehenen Flächen geht es nicht.“
735 Millionen Euro für die nächsten zehn Jahre benötigt
Auch im fast ausverkauften Duisburg geht noch was. Am Hauptbahnhof plant die Stadt die Duisburger Dünen mit Wohnungen und Gewerbe. Nahe der Regattabahn soll mit 6-Seen-Wedau ein neuer Stadtteil entstehen. Diese Projekte seien aber nur möglich, weil die städtische Immobilientochter Gebag die Flächen kaufen konnte, erklärt Wirtschaftsförderer Rasmus Beck.
„In kleineren Städten ist das oft nicht möglich. Es fehlt bisher ein Instrumentenkasten für das gesamte Ruhrgebiet“, meint er. Auch er spricht sich deshalb für einen Grundstücksfonds aus. „Um das Ruhrgebiet für Fachkräfte attraktiv zu machen, brauchen wir nachhaltige Gewerbegebiete in urbanen Lagen mit Aufenthaltsqualität.“
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