Essen. Unruhe bei Thyssenkrupp: Finanzchef Schulte will nach wenigen Monaten im Amt aufhören, trotz Bonus-Zahlung. IG Metall: „Führungschaos“.
Auch die Zusage für ein Handgeld in Höhe von 1,8 Millionen Euro konnte Jens Schulte nicht davon abbringen, Thyssenkrupp zu verlassen. Laut Geschäftsbericht ist dem derzeitigen Finanzchef des angeschlagenen Konzerns die Summe vertraglich zugesichert worden, um ihn an das Unternehmen zu binden. Von einem „Sign-on-Bonus“ ist in der aktuellen Thyssenkrupp-Jahresbilanz die Rede. Die erste „von insgesamt drei Teilzahlungen zu je 600.000 Euro“ habe der Manager bereits erhalten, heißt es im Geschäftsbericht. Dennoch will Schulte, der erst im Juni im Vorstand angefangen hat, schon nach wenigen Monaten im Konzern wieder gehen und den Posten des Finanzchefs der Deutschen Börse übernehmen. Damit verliert der Essener Konzern eine seiner wichtigsten Führungskräfte.
Bei den Arbeitnehmervertretern löst der plötzliche Rückzug des Finanzchefs Besorgnis aus. „Der überraschende Abschied von Herrn Schulte ist sehr irritierend“, sagt Jürgen Kerner, der Zweite Vorsitzende der IG Metall, der auch stellvertretender Aufsichtsratschef von Thyssenkrupp ist. „Es drängt sich der Verdacht auf, dass er nur zur Überbrückung bei Thyssenkrupp angeheuert hat oder dass es interne Zerwürfnisse gibt. Hier ist eine Klärung nötig.“
Unter der Führung von Thyssenkrupp-Vorstandschef Miguel López hat es bereits etliche Wechsel auf Spitzenpositionen gegeben. López selbst erklärte unlängst, von den 150 Top-Managern im Konzern seien rund 40 Prozent nicht mehr da. Sämtliche Chefs der Konzernsparten – abgesehen von Marine-Chef Oliver Burkhard – sind während der Amtszeit von López ausgetauscht worden. Burkhard hat vor wenigen Tagen seinen Abschied als Personalvorstand verkündet. Zuletzt nahm auch Cetin Nazikkol, der Bruder von Betriebsratschef Tekin Nasikkol, seinen Hut: Er war langjährige Thyssenkrupp-Führungskraft und Vorstandsmitglied der Dortmunder Sparte Decarbon, die von López persönlich geführt wird.
IG Metall spricht von „Führungschaos“ bei Thyssenkrupp
„Wir stellen fest: Führungskräfte verlassen in Scharen das Unternehmen – teils unsanft hinausgedrängt, teils freiwillig, weil sie um ihren Ruf fürchten oder einfach genug haben von nicht nachvollziehbaren Entscheidungen und der neuen Führungskultur“, erklärt Jürgen Kerner gegenüber unserer Redaktion. „Diese Ausmaße werden für das Unternehmen langsam gefährlich.“ Das Unternehmen und seine Beschäftigten benötigten „Ruhe, Kontinuität und Konzentration auf die Lösung der großen Herausforderung“, sagt Kerner. „Was sie bekommen, ist Führungschaos.“
Die Lage bei Thyssenkrupp ist ohnehin angespannt. Bei seiner ersten Jahresbilanz als Thyssenkrupp-Finanzchef verkündete Jens Schulte vor wenigen Wochen einen Verlust in Höhe von 1,4 Milliarden Euro. In der Stahlsparte will der Konzern in den nächsten Jahren 11.000 Arbeitsplätze abbauen oder ausgliedern.
Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm, der Jens Schulte vom Spezialglas-Hersteller Schott zu Thyssenkrupp geholt hat, betonte, dass er das Ausscheiden des amtierenden Finanzchefs „sehr bedauere“, aber er respektiere auch den Wunsch des Managers, „die sich ihm bietende Chance“ bei der Deutschen Börse zu ergreifen. Wann Schulte bei Thyssenkrupp ausscheiden wird, ist noch offen, seine Nachfolge ebenfalls.
Thyssenkrupp verteidigt Bonus zum Amtsantritt des Finanzchefs
Das vertragliche zugesicherte Handgeld für Schulte in Höhe von 1,8 Millionen Euro zum Amtsantritt verteidigt das Unternehmen auf Anfrage unserer Redaktion. „Ein sogenannter ,Sign-on-Bonus‘ ist bei Vorstandswechseln nicht ungewöhnlich und tritt dann ein, wenn neue Vorstände beim bisherigen Unternehmen höhere Bezüge in Anspruch nehmen durften beziehungsweise bei einem Wechsel auf Leistungen verzichten, die ihnen beim alten Arbeitgeber zugeflossen wären“, teilt Thyssenkrupp mit. Dies sei beim Wechsel von Schulte zu Thyssenkrupp der Fall gewesen.
Wer auf Seiten von Thyssenkrupp die Vertragsmodalitäten beschlossen hat? Zuständig für alle Vorstandsverträge sei grundsätzlich der Aufsichtsrat, erklärt das Unternehmen auf Anfrage. Der gesamte Aufsichtsrat beschließe die Bestellung von Vorständen und die entsprechenden Konditionen im Rahmen des geltenden Vergütungssystems für Thyssenkrupp-Vorstände.
Aktionärsschützer zeigen sich alarmiert. „Dass Thyssenkrupp jetzt schon wieder einen neuen Finanzvorstand suchen muss, schadet dem Unternehmen“, sagt Marc Tüngler, der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW). Der Weggang von Schulte sei „ein sehr schlechtes Signal“.
Auch mit Blick auf die individuelle Entscheidung des Managers äußert sich Tüngler überaus kritisch. „Thyssenkrupp als Plattform zur Selbstoptimierung zu suchen und dann nach wenigen Monaten weiterziehen zu wollen, sagt einiges über seine Einstellung aus“, sagt er. „Herr Schulte musste wissen, wie es um Thyssenkrupp steht. Ein Vorstand darf nicht flüchten, wenn es schwierig wird.“ Aus Sicht von Thyssenkrupp sei der Fall tragisch: „Das Unternehmen hätte verantwortungsvollere Führungskräfte verdient“, bemerkt Tüngler.
Marc Tüngler: „Das Handgeld muss der Aufsichtsrat zurückfordern“
Mit Blick auf den Antritts-Bonus für den scheidenden Finanzchef fordert der DSW-Hauptgeschäftsführer Konsequenzen. „600.000 Euro als Handgeld einzustecken und dann kurz danach zum nächsten Arbeitgeber gehen zu wollen, ist unanständig“, urteilt Tüngler. „Das Handgeld muss der Aufsichtsrat zurückfordern – und zwar vollumfänglich. Die Grundlage für die Zahlung hat sich aufgelöst.“
Zu den Fragen, ob Schulte der Bonus unabhängig von der Erfüllung seines dreijährigen Vertrages bei Thyssenkrupp zustehe und ob er auf einen Teil der zugesagten 1,8 Millionen Euro verzichten werde, äußert sich das Unternehmen bislang nicht konkret. Der Thyssenkrupp-Aufsichtsrat werde „nun zeitnah über die Ausgestaltung der Beendigung dieses Mandats beraten“, erklärt das Unternehmen auf Anfrage unserer Redaktion.
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