Essen. Die Entscheidung naht, ob die deutsche Stahlindustrie überleben kann. Warum ihr Schicksal nicht nur für die 70.000 Beschäftigten wichtig ist.

Seit Erfindung der „Gipfelitis“ sind übertriebene Erwartungen an die Ergebnisse von Gipfeln passé, sei es vor Klimagipfeln, G7-Gipfeln oder Gipfeln im Kanzleramt. Und das ist gut so, denn zu glauben, die großen Probleme unserer Zeit könne eine handvoll Politiker in wenigen Stunden lösen, wenn sie sich nur mal tief in die Augen schauen, war schon immer naiv. So wird auch der Stahlgipfel in Duisburg weder die Krise der Industrie lösen noch den Durchbruch für grünen Stahl made in Germany bringen. Ebenso wenig wird er das Ruhrgebiet auf seinem Weg zur Wasserstoff-Pilotregion entscheidend voranbringen.

Warum er trotzdem wichtig und richtig ist? Weil er die Chance bietet, sich ehrlich zu machen. Die Chance, alle großen Probleme klar zu adressieren, und zwar in ihrem wahren Ausmaß. Die Zeit, sich unreflektiert für die deutsche Grünstahl- und Wasserstoffstrategie zu feiern und Probleme kleinzureden, ist vorbei. Jetzt geht es darum, die drei riesigen Herausforderungen entschieden und schneller anzugehen: Den Aufbau der Infrastruktur, den Bau der Produktionsanlagen für grünen Stahl und die Schaffung einer gesicherten Abnehmerschaft für den klimafreundlicheren, aber auch teureren Grünstahl.

Der Wasserstoffhochlauf und der Bau grüner Stahlanlagen stocken

Denn auf allen drei Baustellen läuft es nicht nach Plan. Zwar steht das Gerüst für das nationale Wasserstoff-Kernnetz, doch das ist nur die Voraussetzung für die Voraussetzung: Ohne regionale und lokale Verteilnetze kommt der designierte Energieträger der Zukunft nicht in die Werkshallen. Tatsächlich ist seit dem Haushaltsdesaster der Ampel-Regierung aber vielerorts nicht mehr sicher, was wie gefördert wird. Wo der Wasserstoff in ausreichenden Mengen herkommen soll und insbesondere, was er kosten wird, ist ebenfalls offen.

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Der Bau der ersten Direktreduktionsanlage (DRI) in Duisburg, die anfangs mit Erdgas klimaschonender und später mit Wasserstoff klimaneutral Roheisen produzieren soll, wird um Hunderte Millionen Euro teurer und wird von der Thyssenkrupp-Konzernspitze zumindest rhetorisch nicht mehr als gesetzt anmoderiert. CEC, der Kaufinteressent für HKM, würde die Pläne, auch im Duisburger Süden eine DRI-Anlage zu bauen, als erstes begraben. Und bei Arcelor Mittal, Salzgitter und Saarstahl sorgt man sich schon jetzt darum, ob der Wasserstoff dereinst bezahlbar sein wird.

Letztlich muss sich auch Grünstahl made in Germany am Weltmarkt verkaufen

Ob sich schließlich der Grünstahl wird verkaufen lassen, ist ebenfalls nicht ausgemacht. Zwar hat die deutsche Autoindustrie ihre Absicht dazu bekundet, Daimler etwa bereits Grünstahl-Mengen in Schweden geordert, doch die aktuelle Krise des stärksten Zugpferds auch der Stahlindustrie macht die Autobauer nicht eben verschwenderisch. Natürlich kann der Staat eine gewisse Nachfrage sichern, indem er Grünstahl-Quoten für öffentliche Aufträge vorschreibt. Aber nur von der öffentlichen Hand kann und darf die deutsche Stahlindustrie nicht leben. Letztlich muss sich ihr neues Produkt, so revolutionär es auch sein würde, auch preislich am Weltmarkt behaupten.

Es gibt eigentlich nur eine Wette auf die Stahlindustrie, bei der aktuell niemand dagegenhält: Der Umstieg auf Grünstahl gelingt - oder diese Industrie hat in Deutschland keine Zukunft mehr. Klar gibt es dafür mehrere Wege, etwa den Import grüner Vorprodukte aus Ländern mit günstigeren Bedingungen und Löhnen. Doch die mit so viel Begeisterung begonnene Transformation ist dazu verdammt zu gelingen, ein Plan B, etwa mit klassischem Hochofenstahl, der sich gegen den aus China durchsetzt, ist nirgends in Sicht.

Ohne guten Stahl keine deutsche Energiewende

Das wirft wie bei allen Industrieumwälzungen, die der Staat, also der Steuerzahler und die Steuerzahlerin entscheidend mitfinanziert, die Grundsatzfrage auf, ob man es durchziehen oder im Zweifel die Reißleine ziehen sollte. Dafür hilft es, sich die Konsequenzen für Letzteres vor Augen zu halten: der direkte Verlust von 70.000 Arbeitsplätzen und einer Schwerindustrie, deren Produkt elementar ist für unzählige Endprodukte. Darunter mit Elektroautos und Windkraftanlagen auch Säulen der Energiewende und der Klimapolitik, um nur ein Beispiel zu nennen.

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Akut am wenigsten greifbar, aber vielleicht mit am wichtigsten wäre zudem die neue, hundertprozentige Abhängigkeit von Stahlimporten. Das hätte zur Folge: 1. Steigende Preise der Lieferanten. 2. Gefahr von Kettenreaktionen bei Produktionsausfällen in wichtigen Produktionsländern. 3. Verlust des direkten Einflusses auf die Stahlqualität samt eigener Forschung. 4. Rückschlag bei der Erreichung der eigenen Klimaziele.

Was fehlende Medikamente in Deutschland mit der Stahl-Zukunft zu tun haben

Was nun schwerer wiegen würde, der Verlust der Arbeitsplätze oder der Technologiekompetenz, ist einerlei. Nicht unterschätzt werden sollten so oder so die langfristigen Folgen. Es genügt, sich die aktuellen Debatten über nicht verfügbare Arzneimittel, unterbrochene Lieferketten während der Corona-Krise samt monatelanger Wartezeiten auf Ersatzteile oder auch fehlerhafte Balkonkraftwerke aus chinesischer Fertigung vor Augen zu führen: Wenn die vergangenen Jahre eines gezeigt haben, dann dies: Die Aufgabe ganzer Industriezweige mag zu einem gewissen Zeitpunkt marktökonomisch unabwendbar sein, doch dies geschieht immer zum Preis wachsender Abhängigkeiten von Ländern, auf die politisch kein Verlass ist.

Das hat in Ansätzen bereits zu einem Umdenken in Politik wie Industrie geführt, zu neuen Tendenzen, sich unabhängiger vor allem von China zu machen. Und wer gerade krampfhaft und bisher erfolglos versucht, die Arzneimittelproduktion zurück nach Europa zu holen, der sollte sich dreimal überlegen, ob er die Stahlindustrie aufgeben möchte. Deutschland und Europa brauchen eine eigene Stahlproduktion, für die Energiewende, zur Verteidigung ihrer Technologiehoheit und für die Arbeitsplätze.