Gladbeck. In vielen Branchen fehlen Auszubildende. Betriebe müssen umdenken und Chancen geben, die ihnen früher zu mühsam gewesen sind.
- In NRW sind zum Start des neuen Ausbildungsjahres immer noch knapp 30.000 Lehrstellen unbesetzt.
- Der Arbeitskräftemangel setzt viele Betriebe unter Druck.
- Davon profitieren junge Menschen, die es vor wenigen Jahren noch deutlich schwerer am Arbeitsmarkt hatten.
Corina Wehling gibt offen zu, dass sie irgendwann aufgegeben hat. 2016 hat sie den kleinen, schmucken Friseursalon ihres Chefs in einer Gladbecker Seitenstraße übernommen. Der Betrieb mit vier Frauen sei immer auch Ausbildungsstätte gewesen, sagt die 40-jährige Friseurmeisterin. Früher habe sie acht, neun Bewerbungen im Jahr bekommen. Aber diese Zeit sei lange vorbei.
Wehling erzählt von Praktikanten, die nach kurzer Zeit nicht mehr kamen, von Jugendlichen, die im Salon so gern aufs eigene Handy starrten, und von einer Auszubildenden, die ohne große Erklärung ihre Lehre abgebrochen habe. Die Chefin des Kleinbetriebs war genervt und beschloss: Junge Leute fürs Friseurhandwerk auszubilden, das überlässt sie erst einmal anderen.
Dann kam die 18-jährige Joudi Bakdounes zu Corina Wehling - und die Friseurin lächelt.
Für jede Lehrstelle gibt es im Schnitt nur noch einen Bewerber
Die Zahl der jungen Menschen, die eine Lehrstelle suchen, sinkt. Laut NRW-Arbeitsagentur haben sich für das aktuelle Ausbildungsjahr rund 102.000 Jugendliche um einen betrieblichen Ausbildungsplatz beworben. Das waren zwar etwas mehr als 2023. Im Fünfjahresvergleich ist die Zahl der Bewerbenden aber um fast 18 Prozent oder 22.000 Menschen zurückgegangen. Und sie wäre noch mehr eingebrochen ohne Zugewanderte, deren Anteil unter allen Auszubildenden in NRW inzwischen bei 13 Prozent liegt.
Zwar gibt es auch Regionen wie das Ruhrgebiet, wo mehr Jugendliche einen Ausbildungsplatz suchen als Betriebe diese anbieten. Rein rechnerisch kommt landesweit aber nur noch ein Bewerber oder eine Bewerberin auf jede gemeldete betriebliche Lehrstelle. Oft passen Angebot und Nachfrage nicht, selten wollen Jugendliche für die Lehre umziehen. Unternehmen sind also doppelt gefordert: Sie stehen unter dem Druck einer weiterhin wirtschaftlich schwierigen Lage und müssen zugleich immer intensiver um junge Nachwuchskräfte werben.
Bei der Vorstellung des aktuellen Ausbildungsmarkts sprach Agenturchef Roland Schüßler jüngst deshalb auch über eine Gruppe, die Betriebe zunehmend in den Fokus nehmen. Er sehe die „präventive Aufgabe“, neue Wege zu gehen, um auch junge Menschen zu erreichen, „die sprachlich vielleicht noch Hürden zu überwinden haben oder deren Lebensweg bislang nicht geradlinig verlaufen ist“, sagte der Agenturchef: Junge Menschen, die über Kompetenzen verfügten, die ein Zeugnis selten abbildet. „Auch ihnen müssen wir es möglich machen, dass sie einen guten Start in ein qualifiziertes Berufsleben schaffen“, so Schüßler.
Als Kind aus Syrien geflohen, als Jugendliche auf der Suche nach einer Chance
Joudi Bakdounes ist so jemand. 18 Jahre ist sie alt und wie die junge Frau da so an diesem Donnerstagmittag neben ihrer Chefin im Gladbecker Friseursalon „Hairstudio Klein“ sitzt, die Haltung aufrecht, der Blick strahlend, das Lächeln freundlich, vergisst man schnell den Weg, den sie hinter sich hat.
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Als Kind flieht Bakdounes mit ihrer Familie aus Syrien nach Deutschland. Mit all dem im Gepäck, was das bedeutet, kommt sie als junges Mädchen in die Schule. Sie berichtet von Rassismuserfahrungen, sagt auch, dass ihr die Sprache schwergefallen sei. 2023 verlässt sie die Gesamtschule nach der zehnten Klasse nur mit einem Hauptschulabschluss. „Für mich war immer klar, dass ich Friseurin und Make-up-Artist werden möchte“, sagt Bakdounes. Aber wie kommt sie dahin?
Ausbildungscoach an der Seite: „Manche brauchen einen Ruck“
Einer der Menschen, die auf diese Frage eine Antwort suchen, ist Uwe Wolf. Seit sechs Jahren versucht der Ausbildungscoach jungen Menschen einen Weg in Lehre und Beruf zu vermitteln, die es schwerer im Leben haben. Wolf ist ein Mann mit trockenem Humor, der ausspricht, was er denkt und womöglich hilft ihm genau das bei seiner Arbeit. „Manche brauchen einen Ruck“, ist sich Wolf sicher.
Für die Firma Rebeq, einem Tochterunternehmen der Arbeiterwohlfahrt im Kreis Recklinghausen, betreut er derzeit 60 Jugendliche, von denen gut zwei Dutzend noch eine Ausbildung suchen. Er hilft ihnen, aus manchmal handgeschriebenen Zetteln einen Lebenslauf zu erstellen. Er spricht so lange mit den Leuten, bis sie eine Idee vom eigenen Berufswunsch haben. Und er motiviert, nach dem ersten Bewerbungsschreiben auch ein zweites zu verfassen. Wolf geht gezielt auf Firmen zu, die länger nicht ausgebildet haben oder mehr Nachwuchskräfte schulen wollen als bislang. Und er bleibt auch nach Ausbildungsbeginn dabei, um rechtzeitig einzuschreiten, wenn es hakt.
„Es fehlen so viele Arbeitskräfte im Handwerk. Ich glaube, das macht uns Betriebe offener als früher. “
Landesprogramm hat mehr als 1000 Jugendlichen geholfen
Bei Rebeq gibt es fünf solcher Coaches, die im Rahmen des 2023 gestarteten Programms „Ausbildungswege NRW“ arbeiten. 100 Jugendliche sollten sie 2023 an die Hand nehmen. Knapp die Hälfte habe die Hilfe nicht gewollt, aber 35 junge Menschen haben eine Stelle bekommen. 2024 sind es bislang 46.
Das zahlt in die landesweite Statistik ein, auf die das NRW-Arbeitsministerium bereits im vergangenen Frühjahr verwies: Die rund 30 Akteure in NRW, die über das mit 17 Millionen Euro vom Land und dem Europäischen Sozialfonds ausgestattete Programm Jugendliche coachen und beraten, hatten zu diesem Zeitpunkt rund 1.000 junge Menschen in eine berufliche Ausbildung gebracht.
Bei Joudi Bakdounes sei der Berufswunsch zwar klar gewesen, sagt Uwe Wolf. Aber beim Deutschen habe es gehapert. Das habe die Bewerbung erschwert, zumal das Ausbildungsjahr zum Zeitpunkt des Coachings bereits lange begonnen hatte. Wolf suchte also lieber direkt nach Betrieben und fand das „Hairstudio Klein“ von Corina Wehling, die nach einem verkürzten Praktikum sogar noch im November 2023 einen Arbeitsvertrag mit der 18-Jährigen unterzeichnete. „Ich weiß noch, wie sich Joudis hier im letzten Jahr vorstellte. Sie kam 20 Minuten vor dem Termin, hat mir die Hand gegeben und war supernervös“, sagt Wehling. „Ich hatte so ein Gefühl, das wird was.“
„Ich möchte irgendwann meinen eigenen Salon eröffnen.“
Wurde es auch - mit Nachhilfe, die durch das Landesprogramm ebenso gefördert wird wie ein Teil des Azubigehalts im ersten Jahr. So will das Landesprogramm das wirtschaftliche Risiko der Betriebe mindern.
Diese Erfahrung macht Wehling durchaus nachdenklich: „Es fehlen so viele Arbeitskräfte im Handwerk. Ich glaube, das macht uns Betriebe offener als früher.“ Sie wolle sich da auch nicht herausnehmen: Jemanden zu beschäftigen, der zu Beginn mehr Unterstützung brauche, das hätte sie vor einigen Jahren vielleicht auch abgeschreckt. „Mir wäre das vielleicht zu mühsam gewesen.“ Sie wirft einen Blick auf ihre Auszubildende und schüttelt den Kopf. Joudi Bakdounes habe im Team längst eigene Bereiche übernommen.
Und die junge Frau selbst? Sie hat ihr zweites Ausbildungsjahr begonnen - inzwischen ohne Nachhilfe, aber mit einem Ziel: Nach der Ausbildung möchte sie weiter lernen, ihren Meister machen und Kosmetikerin werden. „Ich möchte irgendwann meinen eigenen Salon eröffnen, mit Haarstyling, Hochzeitsfrisuren und Kosmetik“, sagt sie voller Zuversicht. Da knufft Corina Wehling sie an der Schulter: „Dann fange ich bei dir an zu arbeiten.“