Essen. Digitales Trinkgeld ist im Kommen. Und: Die Systeme machen Kunden allgemein spendabler. Warum das nicht alle gut finden.
In Restaurants hört man häufig Sätze wie „Stimmt so“ oder „Der Rest ist für Sie“, wenn es darum geht, dem Servicepersonal Trinkgeld zu geben. Wie viel man geben möchte, ist grundsätzlich jedem selbst überlassen, dennoch sorgt dieser Moment beim Bezahlen oft für Stress. Bei der Zahlung mit EC- oder Kreditkarte heißt es außerdem oft „Trinkgeld geht nur bar“, Bargeld haben aber viele nicht mehr dabei.
Ein neuer Trend aus den USA setzt sich derzeit auch in Deutschland durch und soll Trinkgeldgeben vereinfachen und digitaler machen. Bei der Zahlung mit Karte zeigt das Lesegerät vorgefertigte Prozentsätze an, die durch Knopfdruck ausgewählt werden können. Ist das aufdringlich? Was Gastronomen zu dem Trend sagen und welche Auswirkungen das auf die Höhe des Trinkgeldes hat.
Trinkgeld per Knopfdruck: Auch in Betrieben, wo es früher nicht üblich war
So funktioniert das digitale Trinkgeldsystem: Wenn Gastronomen diese Funktion aktiviert haben, erscheint auf den Terminals eine Aufforderung zur Trinkgeldgabe. Die Gäste können dann einen Prozentsatz des Rechnungsbetrags als Trinkgeld auswählen, während die Servicekraft zusieht. Die Betriebe können selbst festlegen, welche Auswahloptionen auf dem Bildschirm angezeigt werden – zum Beispiel sieben, zehn oder 15 Prozent. Einige Gastronomien bieten sogar 20 oder 25 Prozent an. Eine kleinere Schaltfläche ermöglicht in der Regel die Optionen „Freie Eingabe“ oder „Kein Trinkgeld“.
Das Konzept hat sich mittlerweile in vielen Ländern sowie in deutschen Großstädten etabliert. Aber auch in kleineren Städten ist es immer mehr im Kommen. Auffällig ist, dass es nicht nur in den traditionellen Bereichen wie Restaurants Anwendung findet, sondern auch in typischen Mitnahme-Betrieben wie Fastfood-Restaurants, Bäckereien oder auch Imbissständen, wo Trinkgeld bislang eher unüblich war.
Digitales Trinkgeld: Warum sich Gastronomen dafür oder dagegen entscheiden
Ein Gastronom aus Essen-Rüttenscheid hat das System vor einiger Zeit umgestellt. Zehn, zwölf oder 15 Prozent Trinkgeld kann der Gast bei dem Bezahlvorgang mit Karte geben. „Natürlich gibt es auch die Funktion, nichts zu geben oder einen anderen Betrag auszuwählen“, sagt der Inhaber, der namentlich nicht genannt werden möchte. „Ich habe das System aus einem Grund umgestellt: Weil meine Angestellten deswegen mehr Trinkgeld bekommen. Einfacher wird es für mich als Gastronom dadurch nicht.“
Das bestätigt auch Thorsten Hellwig von der Dehoga NRW, Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband von Gastronomie und Hotellerie. „Vom Aufwand ist das digitale Trinkgeldsystem natürlich ein Mehraufwand gegenüber der Barzahlung. Die Gastronomen müssen die Kanäle trennen, damit das Trinkgeld dann auch wirklich bei den Beschäftigten ankommt und sie müssen zusätzlich Kreditkartengebühren auf die Trinkgelder bezahlen“, sagt der Pressesprecher. So läuft es aber auch, wenn man der Kartenzahlung Trinkgeld hinzufügt, ohne das Prozentsystem zu nutzen.
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Für die Beschäftigten sieht die Dehoga NRW aber auch große Vorteile. „Gerade in Zeiten, in denen alles digitaler wird, erweitert das die Möglichkeit, Trinkgeld zu geben. Viele haben kein Bargeld mehr dabei“, sagt Hellwig. Trotzdem: „Kein Gast wird dadurch gezwungen, Trinkgelder bleiben immer noch freiwillig.“ Kritische Stimmen sagen dagegen, dass Kunden unter Druck gesetzt würden.
„Ich finde dieses Trinkgeld-System total unsympathisch und fordernd.“
„Der Bezahlvorgang ist ein sensibler Prozess. Die Höhe des Trinkgeldes vorzugeben, das setzt Kunden unter Druck – und das finde ich nicht gut“, erklärt René Ressing, Inhaber des Restaurants „Rosemarie Garten & Bar“ in der Essener Innenstadt. „Ich finde dieses Trinkgeld-System total unsympathisch und fordernd.“ Bei ihm laufe der Vorgang noch ganz klassisch. Jeder Gast könne so viel geben, wie er selbst für richtig hält – egal ob in bar oder mit Karte. Etwa zwei Drittel würden mit Karte zahlen, ein Drittel in bar. Signifikante Unterschiede bei der Höhe des Trinkgeldes kann er nicht feststellen. An seinem Trinkgeld-System möchte Ressing nichts ändern.
Zusätzliche Einnahmequelle: Trinkgeld-Höhe hat sich enorm gesteigert
„Durch die Umstellung auf das Prozentsystem hat sich mein Trinkgeld verdoppelt“, berichtet Vanessa, die als Kellnerin in Rüttenscheid arbeitet. Früher habe sie im Schnitt drei bis fünf Prozent erhalten, jetzt sind es durchschnittlich zehn. „Als Kellnerin freue ich mich natürlich, wenn das Gehalt etwas aufgebessert wird.“ Zudem beschleunige das neue System den Bezahlvorgang. „Manche Gäste fühlen sich allerdings verpflichtet, Trinkgeld zu geben. Wenn ich erkläre, dass das nicht zwingend erforderlich ist, sind die meisten damit einverstanden. Viele schätzen das auch, weil sie das Gefühl haben, dass das Geld tatsächlich bei uns Angestellten ankommt“, erklärt die 29-Jährige.
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Wie der Anbieter für Kassensysteme „Orderbird“ kürzlich dem MDR mitteilte, hat sich das Trinkgeldverhalten durch die Einführung der Prozentsysteme enorm verändert. „Derzeit haben wir in Deutschland ca. 2.500 Kunden, welche die Trinkgeldfunktion auf ihren Kartenlesern aktiviert haben“, hieß es von Christian Scheper-Stuke, Head of Business Development & Product Management bei der Firma Orderbird. „Wir können einen deutlichen Anstieg der Trinkgeldhöhe von circa 65 Prozent bei unseren Kunden beobachten. Hierfür haben wir die Daten sechs Monate vor Einführung der Trinkgeldfunktion auf dem Kartenleser mit den Daten sechs Monate nach Einführung der Trinkgeldfunktion verglichen“, hieß es weiter.
Macht ein höheres Trinkgeld den Job attraktiver? Auch in diesem Jahr gibt es laut aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit viele unbesetzte Stellen in der Gastronomie. Dazu sagt die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten: „Wichtig beim Thema Trinkgeld ist aus unserer Sicht insbesondere, dass es sich dabei nicht um einen Lohnersatz handeln darf. Das Gehalt eines oder einer Beschäftigten in der Gastronomie muss auch ohne Trinkgeldgabe zum Leben ausreichen.“ Eine wichtige Voraussetzung dafür sei vor allem, dass die Tarifbindung im Gastgewerbe deutlich steigt, damit möglichst viele Beschäftigte von guten Tariflöhnen profitieren.
Meinungen von Gästen: „Der ursprüngliche Trinkgeldgedanke geht verloren“
Die Meinungen von Gästen, die unsere Redaktion in der Rüttenscheider Gastronomie trifft, gehen zum Thema „digitales Trinkgeld“ auseinander. „Ich fühle mich dann unter Druck gesetzt, mindestens so viel Trinkgeld zu geben, wie es mir auf dem Display angezeigt wird“, sagt zum Beispiel Pia (28). Wenn ein Mitarbeiter daneben steht, dann traue sie sich oft nicht, einen anderen Betrag auszuwählen. Sie findet außerdem, dass der Ursprungsgedanke von Trinkgeld verloren geht: „Für mich ist Trinkgeld eigentlich ein Dankeschön, wenn ich besonders nett bedient wurde.“ Die Höhe sollte jeder selbst entscheiden können.
„Ich finde das grundsätzlich in Ordnung“, sagt dagegen Laura. „Was ich aber nicht gut finde ist, dass es dieses System auch an Orten gibt, wo man überhaupt nicht am Tisch bedient wird.“ Zum Beispiel in Betrieben mit Selbstbedienung oder wenn man in Cafés oder Bäckereien etwas „to go“ mitnimmt.
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