Ludwigsburg/Essen. Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie: 3000 Euro netto und 8,5 Prozent Lohnplus binnen 24 Monaten. NRW übernimmt Pilotabschluss.

In einer hart geführten Schlussverhandlung hat die IG Metall in der größten Industriebranche des Landes deutliche Lohnsteigerungen durchgesetzt: Für die rund 3,9 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektroindustrie gibt es zusätzlich zur steuerfreien Inflationsprämie von 3000 Euro auch Entgelterhöhungen in mehreren Schritten von insgesamt 8,5 Prozent.

Weil das Lohnplus vielen Arbeitgebern zu hoch erschien, stand die fünfte Tarifrunde in Baden-Württemberg zwischenzeitlich kurz vor dem Abbruch. Harald Marquardt, Verhandlungsführer des Arbeitgeberverbands Südwestmetall, sagte nach der Einigung gegen 3 Uhr morgens: „Das war fast ein Dealbreaker.“ Die IG Metall hatte bereits vor Beginn der fünften Runde in Baden-Württemberg, die vorab für den Pilotabschluss auserkoren war, mit ganztägigen Warnstreiks und später auch mit unbefristeten Streiks für den Fall des Scheiterns gedroht. Damit wäre niemandem geholfen gewesen, betonte Marquardt.

Metall-Tarifstreit: NRW vereinbart Übernahme Pilotabschluss

Der Durchbruch wird nun mit größter Wahrscheinlichkeit in allen Bezirken übernommen, also auch für die 700.000 Beschäftigten in NRW. Gewerkschaft und Arbeitgeber haben sich am Dienstag auf eine Übernahme des Pilotabschlusses aus Baden-Württemberg verständigt. Über die Annahme des Verhandlungsergebnisses will die Tarifkommission der IG Metall Nordrhein-Westfalen an diesem Donnerstag abschließend entscheiden.

Der 24 Monate laufende Tarifvertrag ist ein komplexes Werk geworden. Tabellenwirksame, also dauerhaft bleibende Lohnerhöhungen gibt es erst im Juni kommenden Jahres – nach acht Nullmonaten. Im ersten Schritt kommen 5,2 Prozent oben drauf. Elf Monate später, im Mai 2024, kommen weitere 3,3 Prozent hinzu. Das durchschnittliche monatliche Entgeltplus über die gesamten zwei Jahre beträgt nach Berechnungen unserer Redaktion knapp 4,2 Prozent. Das ist etwas mehr als die Hälfte der von der IG Metall für eine Laufzeit von zwölf Monaten geforderten acht Prozent und liegt damit voll in der Linie früherer Abschlüsse.

Steuerfreie Sonderzahlung in zwei Tranchen je 1500 Euro

Weil das die aktuelle Rekordinflation von mehr als zehn Prozent trotzdem nicht ansatzweise ausgleicht, sind die steuer- und abgabenfreien Sonderzahlungen wichtig, die in zwei Tranchen zu je 1500 Euro Anfang 2023 und 2024 ausgezahlt werden. Da dieses Geld den Beschäftigten in voller Höhe netto zur Verfügung steht, hilft es in diesem Winter unmittelbar, die steigenden Energie- und Lebensmittelkosten aufzufangen.

Hand drauf: Den Pilotabschluss in Baden-Württemberg besiegelten gegen 3 Uhr in der Nacht zum Freitag Roman Zitzelsberger (li.), Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg, und Harald Marquardt, stellvertretender Vorsitzender Südwestmetall.
Hand drauf: Den Pilotabschluss in Baden-Württemberg besiegelten gegen 3 Uhr in der Nacht zum Freitag Roman Zitzelsberger (li.), Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg, und Harald Marquardt, stellvertretender Vorsitzender Südwestmetall. © dpa | Marijan Murat

IG-Metall-Chef Hofmann rechnete nach dem Abschluss vor, dass einem Facharbeiter damit in diesen zwei Jahren rund 7000 Euro brutto mehr verdiene, davon 3000 Euro steuerfrei. „Das ist ein Wort“, sagte Hofmann. In anderen Branchen außer bisher der Chemieindustrie ist es den Unternehmen überlassen, diese Einmalzahlung freiwillig zu leisten. Also auch in der Stahlindustrie, die mit insgesamt 6,5 Prozent Lohnplus auf 18 Monate verteilt im Juni ebenfalls einen vergleichsweise hohen Abschluss erzielte.

In der Chemieindustrie sieht das Ergebnis von Ende Oktober ein Lohnplus in zwei Schritten von ebenfalls 6,5 Prozent, aber für 20 Monate vor. Hinzu kommen zwei Sonderzahlungen von je 1500 Euro. Die großen Industriebranchen haben also vorgelegt, ob dieses Signal Wirkung zeigt, wird sich bereits nach dem Jahreswechsel herausstellen: Dann beginnt die Tarifrunde im öffentlichen Dienst: Verdi fordert 10,5 Prozent mehr Geld für die 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen – das ist die höchste Verdi-Forderung aller Zeiten

„Die Beschäftigten haben demnächst deutlich mehr Geld in der Tasche – und zwar dauerhaft. Hinzu kommt die steuer- und abgabenfreie Inflationsausgleichsprämie. Beides zusammen bringt den Beschäftigten eine spürbare Entlastung angesichts der gestiegenen Preise“, sagte IG-Metall-Chef Hofmann. Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf räumte ein, das Ergebnis liege über dem, was die Arbeitgeber angepeilt haben und was die aktuelle Lage hergebe. Ein Arbeitskampf hätte aber noch größeren Schaden verursacht und wäre ein fatales Signal für den Standort und die Tarifautonomie gewesen, verteidigte Wolf das Ergebnis, das viele Unternehmen als zu hoch bewerten dürften.

Arbeitgeber: „Vorschuss auf Wachstum ab 2024“

Insofern sei dieser „teure Abschluss“, so Wolf, „ein Vorschuss auf das Wachstum, auf das wir ab 2024 wieder hoffen“. Wie immer gibt es einige Klauseln, die abweichende Lösungen für Unternehmen in schwieriger Lage beinhalten. Je nach Lage im einzelnen Betrieb sind automatische Differenzierungen vorgesehen. Das ist diesmal nötiger denn je, weil viele Unternehmen etwa in der Zulieferindustrie bereits unter der Krise leiden, während zum Beispiel die Autoindustrie und einige Maschinenbauer aktuell hohe Gewinne erzielen. „Und wir haben uns auch auf ein Vorgehen geeinigt, falls eine Energienotlage die Hoffnungen zunichtemacht“, betonte Wolf.

Die Gewerkschaft hatte vor der finalen Runde in Ludwigsburg bundesweit ihre Muskeln spielen lassen und nach eigenen Angaben insgesamt rund 900.000 Beschäftigte zu Warnstreiks auf die Straße gebracht. Noch am Donnerstag heizte Hofmann 1600 Beschäftigten auf einer Kundgebung in Dortmund ein, bevor er zur finalen Runde nach Ludwigsburg fuhr.

In der Zwickmühle zwischen Krise und Rekordinflation

Während sich die Arbeitgeber vor der für kommendes Jahr vorausgesagten Rezession fürchten, brachte die Rekordinflation die IG Metall unter Druck, einen hohen Abschluss zu erkämpfen, damit ihre Mitglieder ihre Lebensstandards annähernd halten können. Dabei hatte die Gewerkschaft von Anfang an betont, die extern verursachte Teuerung vor allem der Energie könnten die Tarifpartner nicht auffangen. Deshalb kam Arbeitgebern wie Gewerkschaft das Angebot der Bundesregierung, bis zu 3000 Euro von allen Steuern und Sozialabgaben zu befreien, sehr gelegen.

Für die Beteiligten waren es die schwierigsten Tarifverhandlungen seit vielen Jahren: Die Nachwehen der Corona-Pandemie und die Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine insbesondere für die Energiekosten waren denkbar schlechte Rahmenbedingungen. Doch anders als in den Corona-Jahren hielt sich die IG Metall mit ihrer Forderung nicht zurück, weil ihre Mitglieder wie alle Verbraucherinnen und Verbraucher enorm unter der Teuerung leiden.

IG-Metall-Chef: Der Abschluss stärkt auch die Konjunktur

Was die Arbeitgeber in dieser Tarifrunde gar nicht gern hörten, war das Argument von Gewerkschaftschef Hofmann, mit der Stärkung der Kaufkraft auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Rezessionstendenzen in der Gesamtwirtschaft leisten zu wollen. Diese Verantwortung sehen die Unternehmen für sich nicht, sondern derzeit vor allem die trüben Prognosen. Hofmann betonte aber noch in der Nacht: „Mit einem Lohnabschluss wie diesem haben wir nicht nur eine gerechte Lastenteilung erreicht, sondern auch einen verantwortungsvollen Abschluss im Sinne der weiteren konjunkturellen Entwicklung.“