Essen. IGBCE und Arbeitgeber haben sich auf kräftige Lohnerhöhungen und eine steuerfreies Inflationsgeld geeinigt. Der Netto-für-Brutto-Effekt ist groß.

„Wir haben geliefert, die anderen sind noch dran“, sagte Michael Vassiliadis zufrieden. Der Chef der Industriegewerkschaft Bergbau Chemie Energie (IGBCE) sieht den Abschluss seiner Gewerkschaft für die Chemieindustrie als einen Beitrag zur Krisenbewältigung und zum sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Und damit als Vorbild für die anderen Branchen. Kein Wunder: Aus seiner Vorliebe für Einmalzahlungen zur Krisenintervention wurde in Olaf Scholz’ konzertierter Aktion der Vorschlag des Kanzlers – und den hat nun die Chemieindustrie als erste Branche dankend angenommen.

Das Angebot der Regierung an die Tarifpartner, Sonderzahlungen bis zu 3000 Euro von allen Steuern und Abgaben zu befreien, schöpften die IGBCE und der Chemie-Arbeitgeberverband BAVC voll aus: Je 1500 Euro erhalten die rund 580.000 Beschäftigten jeweils im Januar 2023 und ‘24. Teilzeitbeschäftigte erhalten eine anteilige Summe, mindestens aber je 500 Euro. Auch die Auszubildenden erhalten zweimal 500 Euro Inflationsgeld.

Betrieb in Not können Erhöhung verschieben

Hinzu kommt ebenfalls jeweils zum Jahresbeginn eine Entgelterhöhung um 3,25 Prozent. Der Tarifvertrag gilt für 20 Monate, er läuft bis Juni 2024. Darauf einigten sich die traditionell wenig konfliktorientierten Chemie-Tarifpartner am Dienstag. Eine Einschränkung gibt es für Unternehmen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten: Sie können die Lohnerhöhungen um bis zu drei Monate verschieben – also jeweils bis April. Dafür gibt es diese Regeln: Betriebe mit einer Nettoumsatzrendite unter drei Prozent können das Entgeltplus um einen Monat verschieben, Unternehmen, die Verluste schreiben, um zwei Monate. Für eine Verschiebung um drei Monate braucht es eine Betriebsvereinbarung, also die Zustimmung des Betriebsrats.

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„Wir haben in Summe einen krisengerechten Abschluss ausgehandelt. Zentrale Pluspunkte für die Arbeitgeber sind langfristige Planungssicherheit und eine insgesamt ausgewogene Kostenbelastung“, sagte BAVC-Verhandlungsführer Hans Oberschulte. Wie sehr die Steuer- und Abgabenbefreiung der Inflationsprämie auch die Arbeitgeber schont, verdeutlichte er auf Nachfrage unserer Redaktion mit dieser Zahl: „Damit bei den Beschäftigten netto 1000 Euro ankommen, müssten wir sonst 1600 Euro in die Hand nehmen.“

IGBCE: Bis zu 15,6 Prozent Nettoentlastung

Der Netto-für-Brutto-Effekt ist es auch, der den Chemieabschluss nach Lesart der Gewerkschaft in die Nähe eines echten Inflationsausgleichs bringt. „Wir haben unter miserablen Rahmenbedingungen Wort gehalten und eine intelligente Kombination aus schnell spürbarer Entlastung und nachhaltigem Lohnplus durchgesetzt“, sagte Verhandlungsführer Ralf Sikorski. Auch das Versprechen, die Inflation trotz ihres Rekordstands auszugleichen, „haben wir erfüllt“. Sikorski rechnet vor, die Entgelterhöhungen von insgesamt 6,5 Prozent und die 3000 Euro Inflationsprämie sorgten in Summe für eine Nettoentlastung von durchschnittlich 12,94 Prozent, die in der untersten Entgeltgruppe sogar 15,64 Prozent erreiche.

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Diese Zahlen lassen sich freilich nicht einfach mit der Jahresinflation von derzeit zehn Prozent vergleichen. Bei einer Laufzeit von 20 Monaten mit zwei Nullmonaten in diesem November und Dezember deckt die Nettoentlastung dank der Sonderzahlungen im kommenden Jahr laut Sikorski je nach Lohngruppe bis zu zehn Prozent Inflation ab. Das gelte auch für 2024, wo zudem die nächste Tarifrunde ansteht und ab Juli weitere Erhöhungen zu erwarten sind. Bis dahin, so die Hoffnung der Wirtschaft wie der Politik, sollte die Inflation ihre Rekordhöhe verlassen haben. Für 2023 rechnet die Bundesregierung aktuell mit sieben Prozent.

Gewerkschaftschef Vassiliadis, der nicht nur in Scholz’ konzertierter Aktion, sondern auch in der Kommission zur Gaspreisbremse eine entscheidende Rolle gespielt hat, sieht die Chemieindustrie als Vorbild: „Dieser Abschluss hat Signalwirkung über die Branche hinaus. Beweist er doch, dass gut gemachte Tarifpolitik zentraler Baustein eines gesamtgesellschaftlichen Bollwerks gegen Inflation und Energiekrieg sein kann.“

Weniger Harmonie in der Metallindustrie

Die größte und wichtigste Tarifrunde läuft derzeit in der Metall- und Elektroindustrie mit ihren 3,8 Millionen Beschäftigten – und sie läuft wie fast immer weit weniger harmonisch ab als die der Chemieindustrie. Auch hier gibt es Signale beider Seiten, die Steuer- und Abgabenbefreiung von Sonderzahlungen nutzen zu wollen. Die IG Metall legt aber auch großen Wert auf prozentuale Lohnerhöhungen und fordert acht Prozent, weil etwa auch die Energiekosten dauerhaft hoch bleiben würden.

Die Metall-Arbeitgeber warnen dagegen vor Produktionsstopps wegen der extrem hohen Energiepreise. Gesamtmetall-Präsident Stefan Wolf hat unlängst im Handelsblatt betont, bei einer Zuspitzung der Krise und einer Gasnotlage müsse über eine Nullrunde nachgedacht werden. Das hörte man bei der IG Metall nicht so gern. Vor der dritten Verhandlungsrunde hat die Gewerkschaft in NRW bereits mit Warnstreiks nach Ende der Friedenspflicht ab November gedroht.

Kanzler Scholz empfiehlt den IGBCE-Weg

Die Chemieindustrie hatte ihre Tarifverhandlungen eigentlich bereits im Frühjahr, verschob sie aber in den Herbst. Arbeitgeber und IGBCE einigten sich im April auf eine Einmalzahlung von 1400 Euro als Brückenlösung. Den Weg, mit Einmalzahlungen der Rekordinflation zu begegnen, ohne die Arbeitgeber zu überfordern, machte Kanzler Scholz im Sommer dann zu seinem, empfahl dies mit Verweis auf die Chemieindustrie auch den anderen Branchen. Das kam nicht in allen Gewerkschaften gut an, wurde auch als Einmischung des Kanzlers in die Tarifautonomie kritisiert. Die Steuerbefreiung durch die Regierung hat die Wogen geglättet und dürfte in vielen Branchen angenommen werden.