Essen. Bayer will weiter an Russland liefern. Konzernchef Baumann: Ohne unsere Medikamente gäbe es noch mehr zivile Opfer. Aktionärsschützer skeptisch.

Rückkehr in die Gewinnzone, Fortschritte bei den Glyphosat-Klagen in den USA und kräftige Kursgewinne an der Börse – Bayer Chef Werner Baumann kann am Freitag auf der virtuellen Hauptversammlung mit breiter Brust vor die Anteilseignerinnen und -eigner treten. Doch angesichts des massenhaften Sterbens in der Ukraine ist das Vorjahr, um das es auf Aktionärstreffen stets geht, weit weg. Aktuell bringt die Frage, warum Bayer zu den wenigen Dax-Konzernen gehört, die weiter Geschäfte in Russland machen, den Vorstand in die Defensive. Das Russland-Geschäft trägt rund zwei Prozent zum Bayer-Umsatz bei. Viele andere Konzerne haben sich sofort oder auf Druck der Öffentlichkeit aus Russland zurückgezogen, zuletzt Henkel.

Laut bereits veröffentlichtem Redemanuskript will Baumann den Verbleib in Russland am Freitag erneut verteidigen. Und dabei an die Mitmenschlichkeit gegenüber der russischen Bevölkerung appellieren, was der ein oder andere als zynisch empfinden könnte. „Einer Krebspatientin in St. Petersburg nun lebenswichtige Medikamente vorzuenthalten, hieße in letzter Konsequenz nichts anderes, als den Tod weiterer Zivilisten in Kauf zu nehmen“, will Baumann sagen.

Bayer: Lieferstopp würde Opferzahl vervielfachen

Es ist die Argumentation, die auch der Dax-Konzern Fresenius nutzt, der in Russland nach eigenen Angaben rund 100 Dialysezentren für Nierenkranke betreibt und seine Patientinnen und Patienten nicht im Stich lassen will. Baumann führt neben den Arzneien aber stets Bayers wichtige Rolle für die Lebensmittelversorgung in Putins Reich an. Ein Lieferstopp der Leverkusener von Gesundheits- und Landwirtschaftsprodukten (gemeint ist vor allem Saatgut) „würde die Zahl an Menschenleben, die dieser Krieg fordert, nur vervielfachen“, heißt es in der jüngsten Stellungnahme des Konzerns. Baumann will am Freitag betonen, Bayer empfinde „eine ethische Verpflichtung für die Zivilbevölkerung“.

So bleibt es als Konsequenz weitgehend beim Werbestopp und einer vorläufigen Investitionspause in Russland. Das reicht viele Menschen weltweit nicht aus, sie fordern einen kompletten Rückzug der Leverkusener, was Bayer nach eigenem Bekunden bewusst ist. Aktionärsschützer Marc Tüngler glaubt nicht, dass Baumann diese Position noch lange halten kann. „Ich glaube, der Tag naht, an dem Bayer sich entscheiden muss. Angesichts des grausam geführten Krieges steht der Konzern Fragen aus dem Rest der Welt gegenüber – und mit jedem Tag wird es schwieriger, darauf Antworten zu finden“, sagte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) unserer Zeitung.

DSW-Aktionärsschützer: Druck wird mit jedem Tag größer

Dabei steht Tüngler hier nicht an vorderster Front der Kritiker, meint aber: „An Russlandgeschäften festzuhalten, fällt bei Medikamenten aus humanitären Gründen sicher leichter als in anderen Bereichen. Doch die Lage verändert sich massiv, der Druck wird jeden Tag größer und dabei geht es kaum mehr um sachliche Argumente, sondern schlicht darum, sich für Sanktionen gegen Kriegsverbrecher zu entscheiden.“

Bayer-Chef Baumann sorgt sich nicht nur um die Lebensmittelversorgung in Russland, sondern vor allem auch in Afrika und den ärmsten Teilen der arabischen Welt – als direkte Folge des russischen Zerstörungskrieges in der Ukraine. Die Lebensmittel verteuern sich weltweit, weil die Ukraine und Russland zu den größten Getreideexporteuren der Welt gehören und im Zuge des extremen Energiekostenabstiegs so ziemlich alle Produktpreise deutlich anziehen.

Amnesty: Geschäftstätigkeit in Russland dringend neu bewerten

Amnesty International betonte auf Anfrage unserer Zeitung, „die gravierende Menschenrechtssituation in Russland“ erfordere „eine gesteigerte Aufmerksamkeit von dort tätigen Unternehmen bei der Ausübung ihrer menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht“. Sie sollten die menschenrechtlichen Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit in Russland dringend neu bewerten, rät Amnesty-Wirtschaftsexpertin Annelen Micus.

Mit einer Antwort darauf, was das letztlich für Bayer heißt, tut sich aber auch Amnesty schwer. Wo Menschenrechtsverletzungen nicht verhindert werden könnten, müsse „das Unternehmen eine Beendigung seiner Tätigkeit oder der Geschäftsbeziehung in Betracht ziehen“, sagte Micus. Aber es müsse „auch mögliche negative Auswirkungen auf die Menschenrechte durch eine Beendigung abwägen“.

Bayer-Chef befürchtet Hungersnöte in Entwicklungsländern

„Schon jetzt ist klar, dass dieser Krieg auch außerhalb der Kampfgebiete unzählige Opfer fordern wird. Die Nahrungssicherheit in vielen Ländern ist massiv bedroht, gerade in der arabischen Welt und in weiten Teilen Afrikas“, warnt deshalb Baumann. Besonders schlimm sei das „in den Ländern, in denen sich Menschen buchstäblich das täglich Brot nicht mehr leisten können, wenn sich die Preise verdoppeln. Schon heute geben dort viele Menschen den größten Teil ihres Einkommens aus, nur um zu überleben“, heißt es in seinem Redemanuskript für die Hauptversammlung.

Baumann zitiert auch David Beasley, den Chef des Welternährungsprogramms, der von einer „Katastrophe“ für die weltweite Nahrungsversorgung spricht und durch den Kriegs globale Auswirkungen erwartet, „wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben“. Das zu verhindern, sieht Bayer nun als seine Aufgabe, auch sein Geschäft an. „Als ein weltweit führendes Agrarunternehmen tragen wir hier eine besondere Verantwortung, der wir gerecht werden wollen. Unsere Arbeit für Landwirte auf der ganzen Welt wird nun noch wichtiger“, betont Baumann.

Monsanto könnte sich nun bezahlt machen

Der Chef des Pharma- und Agrarchemiekonzerns hat vor vier Jahren mit Monsanto den Saatgut-Weltmarktführer gekauft – und bisher nur Ärger mit seiner Neuerwerbung gehabt. Das zu seinem Saatgut passende Glyphosat-basierte Pflanzenschutzmittel Roundup hat in den USA zu 138.000 Klagen von Menschen geführt, die das Mittel für ihre Krebserkrankung verantwortlich machen. Während Bayer den Großteil der Klagen mit Vergleichen abgeräumt und die Hoffnung hat, dieses Thema in diesem Jahr ad acta legen zu können, könnte Monsanto nun sehr wichtig werden.

„Der Anbau und Schutz von Nutzpflanzen wird in dieser Zeit zu einer gesellschaftlichen Kernaufgabe – und die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität zu einem übergeordneten Ziel“, glaubt Baumann. Bayer helfe bei der kurzfristigen Nahrungsversorgung in den am stärksten betroffenen Regionen, so werde rund die Hälfte der Getreideernte Kenias mit Bayer-Produkten gesichert.

Bayer: Russischen Kunstdünger durch biologischen ersetzen

Langfristig will Bayer mit widerstandsfähigen Getreidezüchtungen wie Kurzhalmmais und Dünger-Innovationen die Nahrungsversorgung auch in sehr trockenen Ländern sichern. Dabei sei es wichtig, Kunstdünger durch biologischen zu ersetzen, an dem Bayer forscht und für den der Konzern jüngst eine Partnerschaft mit dem amerikanischen Biotech-Unternehmen „Ginkgo Bioworks“ geschlossen hat. Kunstdünger sei nicht nur für etwa vier Prozent der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Eines der größten Produktionsländer sei Russland, was die Abkehr nun auch zu einem „geopolitischen Gebot“ mache.