Essen. Essens OB Kufen zeigt sich besorgt angesichts schwach gefüllter Gasspeicher. Drohen Engpässe? Experten haben vor allem die Gaspreise im Blick.
Wenn die Erdgasspeicher in Deutschland vollständig gefüllt wären, könnten sie theoretisch den bundesweiten Bedarf für etwa drei Monate sichern. 47 Untertagespeicher gibt es im Land. Zu den Betreibern gehören beispielsweise der nordrhein-westfälische Stadtwerkeverbund Trianel, der RWE-Konzern und der Düsseldorfer Energieversorger Uniper, in dem ein Großteil der Essener Traditionsfirma Ruhrgas aufgegangen ist. Auch der russische Staatskonzern Gazprom mischt über seine Tochter Astora kräftig mit. Das Unternehmen mit Sitz in Kassel ist für rund ein Viertel der gesamten deutschen Erdgasspeicher-Kapazitäten verantwortlich.
Im niedersächsischen Rehden – unweit der NRW-Landesgrenze – verfügt die Gazprom-Tochter über einen der größten unterirdischen Gasspeicher Westeuropas. Auf einer Fläche von acht Quadratkilometern können dort Unternehmensangaben zufolge in 2000 Metern Tiefe rund vier Milliarden Kubikmeter Erdgas gelagert werden. Diese Menge reiche, um zwei Millionen Einfamilienhäuser ein Jahr lang zu versorgen, heißt es auf der Website von Astora.
Doch derzeit ist der Speicher in Rehden auffällig schwach gefüllt, wie aus offiziell zugänglichen Statistiken hervorgeht, nämlich mit weniger als fünf Prozent der möglichen Menge. Zum Vergleich: Bei den Gasspeichern von Uniper sind es etwa 40 Prozent, bei Trianel 45 und bei RWE fast 60 Prozent. Laut einer Übersicht der Speicherbetreiber lag der Füllstand der deutschen Speicher am 22. Januar insgesamt bei knapp 42 Prozent – und damit unter den Werten am Vergleichstag vor einem Jahr.
Essens Oberbürgermeister Kufen zeigt sich besorgt
Angesichts der aktuellen Lage hat Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen das NRW-Wirtschaftsministerium aufgefordert, sich für Versorgungssicherheit einzusetzen. Man beobachte mit großer Sorge, dass die deutschen Gasspeicher schon jetzt recht niedrige Füllstände aufwiesen, „und das obwohl die kalten Monate erst noch vor uns liegen“, schrieb der CDU-Politiker an Landeswirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP). Zahlreiche Gasversorger haben zudem ihre Preise bereits teils massiv erhöht.
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Mit einem Anteil von zwei Dritteln ist Russland der mit Abstand größte Lieferant von Erdgas für Deutschland, unter anderem über die Pipeline Nord Stream 1. „Die Gasflüsse über die deutschen Grenzen sind unüblich niedrig für diese Jahreszeit – mit Ausnahme von Nord Stream 1, die sind konstant hoch“, sagte Fabian Huneke vom Beratungsunternehmen Energy Brainpool der Deutschen Presse-Agentur. Es sei verwunderlich, dass vor dem Hintergrund der gestiegenen Preise und der hohen Nachfrage die Gaslieferkapazitäten Richtung Europa so wenig genutzt würden. „Wenn Gazprom sich marktrational verhalten würde, würden sie die Gaslieferungen nach Europa auch durch die Pipelines, die durch Belarus und die Ukraine führen, verstärken“, gibt Huneke zu bedenken. Den Grund für das russische Verhalten sehe er in der Ukraine-Krise. „Russland liefert trotz der hohen Gaspreise kaum mehr als in den langfristigen Verträgen zugesagt ist. Ein solches Verhalten ist marktwirtschaftlich kaum erklärbar“, sagt Manuel Frondel, Energieexperte des RWI Essen.
„Nach Einschätzung von Insidern sollten die gespeicherten Mengen ausreichen“
Die neu gebaute Ostseepipeline Nord Stream 2 ist zwar fertiggestellt, bislang aber nicht in Betrieb. Die Bundesnetzagentur hatte im November ihr Freigabeverfahren vorläufig ausgesetzt. Ohne eine Zertifizierung darf die politisch umstrittene Pipeline nicht benutzt werden. Auch in der SPD von Bundeskanzler Olaf Scholz ist der Ruf laut geworden, bei einer russischen Aggression gegen die Ukraine das Projekt Nord Stream 2 zu stoppen. „Sollte Russland die Ukraine angreifen, müssen alle Optionen auf dem Tisch liegen, auch Nord Stream 2“, sagte die SPD-Europabeauftragte Katarina Barley dem Magazin „Der Spiegel“.
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Die im Vergleich zum Vorjahr niedrigen Gasspeicherstände begründet RWI-Experte Frondel auch mit hohen Gaspreisen im vergangenen Sommer. Daher seien die Speicher „nicht so stark nachgefüllt“ worden wie sonst üblich. „Nach Einschätzung von Insidern sollten die gespeicherten Mengen aber ausreichen, um in Deutschland gut durch den Winter zu kommen“, fügt Frondel hinzu. Sollte der Winter im Februar allerdings noch strenger werden oder sich die politischen Spannungen verstärken, „würde das die Gaspreise noch weiter steigen lassen“, vermutet Frondel.
Reihenweise erhöhen Gasversorger die Preise
Eine vom Staat kontrollierte Gasreserve gibt es in Deutschland nicht. „Von der vor allem wirtschaftlichen Einschätzung der Speichernutzer hängt ab, inwieweit sie die Speicher befüllen“, wird bei der Bundesnetzagentur betont. „Gesetzliche Vorschriften zum Füllstand von Speicheranlagen bestehen nicht.“
NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) erklärte auf Anfrage unserer Redaktion, es gebe „sicherlich eine ernste Lage“, diese sei aber „noch nicht bedrohlich“. Durch stark steigende Gaspreise und etwaige Gasliefereinschränkungen könnten indes insbesondere der Industrie gewaltige Probleme entstehen, mahnte der Minister. Er habe daher den für die Gasversorgung federführenden Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kürzlich aufgefordert, „zügig eine Prüfung vorzunehmen, um in Zukunft mehrere Sicherungsinstrumente einzuführen“, etwa termingebundene Mindestfüllstände bei Gasspeichern und gegebenenfalls auch eine strategische „nationale Reserve“. Es habe ihn daher gefreut, so Pinkwart, dass Habeck zugesagt habe, er wolle „für den nächsten Winter vorsorgen, damit die Gasspeicher gut gefüllt sind“. Zum Brief von Oberbürgermeister Kufen wollte sich Pinkwart nicht direkt äußern. Das Schreiben sei noch nicht im Ministerium eingegangen, erklärte ein Sprecher des Ministers.
Kufens Brief noch nicht bei Pinkwart angekommen
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Es gebe derzeit viele Faktoren, die den Gaspreis in die Höhe treiben, heißt es beim Energieversorger Lichtblick. Die Unsicherheiten rund um die Pipeline Nord Stream 2 spielten ebenso eine Rolle wie „die niedrigen Füllstände in den Gasspeichern, die ja sowas wie das Sicherheitsnetz der Gasversorgung bilden“. Teilweise sei auch die Gasförderung unerwartet rückgängig, etwa aufgrund von Wartungsarbeiten an nordischen Gasfeldern.
Nach Angaben des Vergleichsportals Check24 haben bundesweit bereits in 1179 Fällen Gasgrundversorger die Preise erhöht oder Preiserhöhungen angekündigt – im Schnitt um rund 59 Prozent. Für einen Musterhaushalt mit einem Verbrauch von 20.000 Kilowattstunden (kWh) bedeute das zusätzliche Kosten von durchschnittlich 902 Euro pro Jahr. 371 Grundversorger hätten zudem neue Tarife ausschließlich für Neukunden eingeführt. Hier seien die Preise sogar im Durchschnitt um 158 Prozent angehoben worden.
„Wenn es kommt, haben wir ein nationales Problem“
Doch wird das Gas nicht nur teurer, sondern auch knapp? Anlass für sein Schreiben an das NRW-Wirtschaftsministerium sei eine Meldung der Stadtwerke Essen, dass die Entwicklungen der vergangenen Wochen auf eine mögliche nationale Gasmangellage deuteten, schrieb Oberbürgermeister Kufen. Im Fall einer weitergehenden Reduzierung der Liefermengen würde auch die Versorgung von geschützten Gasverbrauchern, das sind insbesondere Haushaltskunden, Krankenhäuser sowie Alten- und Pflegeheime, nicht mehr sichergestellt werden können. „Da die betreffenden Gasmengen ganz überwiegend zu Heizzwecken eingesetzt werden, wären die Auswirkungen insbesondere in den Wintermonaten dramatisch“, schrieb Kufen, der gut in der Energiewirtschaft vernetzt ist, so unter anderem als Aufsichtsratsmitglied des Energiekonzerns RWE und als Kuratoriumsmitglied der RAG-Stiftung.
Die Stadtwerke Essen erklärten, der kommunale Versorger bereite sich technisch auf Szenarien vor, bei denen wenig oder gar kein Gas mehr geliefert werde. So werde etwa durchgespielt, was passiere, wenn der Druck im Gasnetz nachlasse. „Wir haben noch keine Anzeichen, dass wir kein Gas mehr kriegen“, so die Stadtwerke. Ähnlich äußerten sich weitere Brancheninsider im Gespräch mit unserer Redaktion. Sollte aber doch eine Gasknappheit entstehen, heißt es bei den Stadtwerken, werde Essen nicht allein betroffen sein: „Wenn es kommt, haben wir ein nationales Problem.“