Duisburg/Essen. Thyssenkrupp-Konzernbetriebsratschef Nasikkol sieht mit dem überraschenden Kretinsky-Einstieg eine „Kampfansage“ von Vorstandschef López.
Die Entwicklungen bei Thyssenkrupp Steel sind rasant – und nach unserem Interview mit Tekin Nasikkol haben die Arbeitnehmervertreter ihre Pläne geändert. Nicht im Stadion des MSV Duisburg wollen sich die Beschäftigten nun am 30. April versammeln, sondern vor der Hauptverwaltung von Thyssenkrupp Steel in Duisburg – als Zeichen des Protests. Das teilten Betriebsrat und IG Metall am Samstag (27. April) in einem Flugblatt mit. Tags zuvor zeichnete sich die Eskalation im Interview mit Nasikkol bereits ab, als publik wurde, dass der tschechische Milliardär Daniel Kretinsky mit seiner Firma EPCG bei Thyssenkrupp Steel einsteigen soll. Mit ihrer Informationspolitik hätten Thyssenkrupp-Vorstandschef Miguel López und Aufsichtsratschef Siegfried Russwurm die Arbeitnehmervertreter „einmal mehr umschifft und somit bewusst vor den Kopf gestoßen“, heißt es in dem Flugblatt. „Wir werden von diesen Herren kein Stück weit mehr informiert, als das Gesetz es vorsieht“, kritisiert Tekin Nasikkol. „Dies ist für einen traditionell mitbestimmten Konzern wie den unseren mehr als eine Provokation. Es ist eine kalkulierte Kampfansage.“ Daher werde der Protest vor die Konzernzentrale verlagert, erklärt der Betriebsrat am Samstag. Die ursprünglich geplante betriebsinterne Veranstaltung im Stadion wird abgesagt. Hier unser Interview vom Freitag (26. April) mit Tekin Nasikkol.
Herr Nasikkol, der tschechische Milliardär Daniel Kretinsky steigt bei Thyssenkrupp Steel ein. Überrascht Sie der Schritt?
Nasikkol: Monatelang haben wir nichts von Daniel Kretinsky gehört. Die Nachricht über den Einstieg von EPCG kommt überraschend. Wir wurden wenige Stunden vor der Mitteilung des Unternehmens über den geplanten Einstieg von EPCG informiert.
Zuletzt gab es Funkstille zwischen Kretinsky und der IG Metall. Sind die Arbeitnehmervertreter aus Ihrer Sicht zu wenig eingebunden worden?
Nasikkol: Die Art und Weise des Umgangs mit der Mitbestimmung ist inakzeptabel und der Lage nicht angemessen. Nach der angekündigten Restrukturierung des Stahlvorstands wird uns jetzt der geplante Einstieg von EPCG zusätzlich über den Zaun geworfen. Das schafft kein Vertrauen.
Was sind Ihre Forderungen an Kretinsky?
Nasikkol: Wir haben viele Fragen: welche Absichten hat Kretinsky? Wie sieht sein Plan, sein industrielles Konzept vor? Die Thyssenkrupp AG und Kretinsky haben Stillschweigen über die Modalitäten vereinbart. Wir wollen das Kleingedruckte sehen und erwarten volle Transparenz. Wir haben immer gesagt: Gegen Milliardäre, die ihr Geld in Stahl investieren wollen, haben wir nichts. Aber eins sage ich deutlich: Eigentum verpflichtet. Dieser Verpflichtung muss Kretinsky ebenso nachkommen wie die Thyssenkrupp AG. Daran messen wir den möglichen neuen Eigentümer wie auch unsere Konzernmutter.
Befürchten Sie Einschnitte bei den Beschäftigten und an den Standorten?
Nasikkol: Die Einhaltung von laufenden Tarifverträgen ist auch für Kretinsky verpflichtend. Bis März 2026 haben wir den Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen und Standortgarantien festgezurrt.
Wie wirkt sich die aktuelle Entwicklung auf Ihr Verhältnis zu Thyssenkrupp-Konzernchef López aus?
Nasikkol: Jeder von uns hat seine Rolle und damit verbundene Aufgaben. Als Konzern- und Gesamtbetriebsratsvorsitzender erwarte ich Mitbestimmung auf Augenhöhe.
In den vergangenen Monaten hat es einen rasanten Stimmungsumschwung bei Thyssenkrupp Steel gegeben. Vor fast genau einem Jahr haben Sie am Rande eines Besuchs von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei Thyssenkrupp in Duisburg gesagt, sie hätten „selten so eine Aufbruchstimmung“ in der Belegschaft erlebt. Wie konnte es dazu kommen, dass von Aufbruch keine Spur mehr ist?
Nasikkol: Der Aufbruch nach der Auftragsvergabe für die erste DRI-Anlage in Verbindung mit dem Förderbescheid von Bund und Land war wirklich zu spüren. So einen Optimismus habe ich in meiner 38-jährigen Zeit im Unternehmen noch nicht erlebt. Aber ich muss leider feststellen, dass danach viel passiert ist. Die Konjunktur hat sich eingetrübt, mit der Autoindustrie steckt unser wichtigster Stahlkunde in einer schwierigen Phase. Auch die Diskussion über einen möglichen Einstieg des tschechischen Unternehmers Kretinsky bei Thyssenkrupp Steel hat die Stimmung in der Belegschaft nicht gerade verbessert.
Vor wenigen Tagen hat der Vorstand angekündigt, dass die Werke von Thyssenkrupp Steel dauerhaft auf eine geringere Kapazität zugeschnitten werden sollen. Fast ein Viertel der Produktion dürfte damit wegfallen. Ist geplante Kapazitätsverringerung aus Sicht der Arbeitnehmervertreter nachvollziehbar?
Nasikkol: Die Stahlindustrie in Deutschland und Europa steht vor großen Herausforderungen. Jeder Einschnitt in dieser systemrelevanten Industrie schwächt den Industriestandort Deutschland und erhöht die Abhängigkeit vom Ausland. Ich warne davor, falsch abzubiegen.
Wollen Sie gegen die geplante Verringerung der Kapazität kämpfen?
Nasikkol: Wir kämpfen immer, wenn es Arbeitsplätze geht. Für uns steht im Mittelpunkt, was das für die Beschäftigten bedeutet. Und da sagen wir ganz klar: Es darf keine betriebsbedingten Kündigungen geben. Außerdem haben wir einen Vertrag, der bis zum März 2026 läuft und Standortschließungen bei Thyssenkrupp Steel ausschließt. Nur wenn sich der Vorstand zu diesen Vereinbarungen bekennt, setzen wir uns an den Verhandlungstisch für ein neues Zukunftskonzept.
In der jahrzehntelangen Geschichte des montanmitbestimmten Stahlkonzerns Thyssenkrupp Steel gab es noch nie betriebsbedingte Kündigungen. Warum sollte es diesmal anders sein?
Nasikkol: Das ist eine Frage, die ich auch in der Belegschaft höre. Aber wir sollten uns nicht in einer falschen Sicherheit wähnen. Denn wir wissen: Ein Ausschluss betriebsbedingter Kündigungen kostet viel Geld. Eine Restrukturierung kostet ebenfalls viel Geld. Eigentlich müsste der Vorstand dieses Geld sinnvoller für Zukunftsinvestitionen in den Stahl nutzen.
Es kursieren Spekulationen, dass es um die Stilllegung von mindestens zwei Hochöfen und zwei Walzwerken gehen könnte. Wie groß ist die Verunsicherung im Unternehmen?
Nasikkol: Wenn solche Spekulationen im Raum stehen, verunsichert das die Menschen. Aber es ist nichts bestätigt. Uns liegen solche Pläne nicht vor. Meine Erfahrung sagt mir zugleich: Wo Rauch ist, ist oft auch Feuer. Und daher müssen wir vorbereitet sein
Glauben Sie, bei den Einschnitten ging es auch darum, einen Einstieg des tschechischen Milliardärs Daniel Kretinsky vorzubereiten?
Nasikkol: Dieser Eindruck ist naheliegend. Unsere roten Linien sind klar definiert.
Für den 30. April planen Sie eine große Versammlung der Belegschaft von Thyssenkrupp Steel im Stadion des MSV Duisburg. Rechnen Sie mit einer aufgeheizten Stimmung?
Nasikkol: Ich rechne mit einer verunsicherten Belegschaft, die viele Fragen hat. Nach dem heutigen Einstieg von Kretinsky sind noch weitere hinzugekommen. Deswegen bekräftige ich jetzt nochmal meine Einladung an Herrn Lopez, dort zu erscheinen. Ich habe in den vergangenen Tagen oft bei Beschäftigten gehört: Wir fahren zu Herrn López nach Essen, damit er merkt, worum es geht. Es ist jedenfalls zu spüren, wie sehr die Emotionen hochkochen. Der Druck in den Betrieben steigt.
Rund 28.000 Menschen finden im MSV-Stadion Platz. Haben Sie die Erwartung, dass das Stadion annähernd gefüllt sein wird?
Nasikkol: Das werden wir sehen. Ich kann nur jedem bei uns im Betrieb raten, die Gelegenheit zu nutzen, ein starkes Zeichen zu setzen und vom Vorstand Antworten einzufordern. Und es ist gut, dass hochrangige Vertreter der Politik aus Bund und Land teilnehmen wollen. Schließlich bekommt Thyssenkrupp Steel milliardenschwere Unterstützung für die anstehende Transformation. Damit sitzt die Politik mit im Boot.
Droht eine weitere Eskalation?
Nasikkol: Das hängt entscheidend davon ab, was der Vorstand jetzt macht. Wir kennen schließlich den Plan des Managements noch nicht. Vielleicht erleben wir im Stadion nur das Eröffnungsspiel.
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