Essen. In Essen startet die Altenpflege-Messe 2024. Im Interview spricht der Chef des Softwareentwicklers Myneva über digitale Helfer.
- Vom 23. bis zum 25. April findet in Essen die Altenpflege-Messe 2024 statt.
- Der Essener Softwareentwickler Myneva zeigt eine neue mobile Spracherkennung, um den Dokumentationsaufwand zu verringern und so Zeit für Pflege zu schaffen.
- Die Gruppe hat ihren Sitz von Hamburg nach Essen verlegt - trotz höherer Gewerbesteuern.
Die Myneva-Group, die Software für die Pflegebranche entwickelt, hat ihren Sitz von Hamburg nach Essen verlegt. Im Interview spricht Geschäftsführer Dieter Weißhaar, der selbst in Essen-Steele lebt, über die Gründe und warum Künstliche Intelligenz und Spracherkennung die Arbeit von Pflegerinnen und Pflegern in Einrichtungen für Senioren, Behinderte und Jugendliche erleichtern können.
Herr Weißhaar, Sie verlegen den Sitz des Softwareunternehmens Myneva von Hamburg nach Essen. Warum?
Dieter Weißhaar: In Essen haben wir seit 51 Jahren die größte operative Einheit der Myneva Group. Essen entwickelt sich zu einem anerkannten E-Health-Standort mit großen Anbietern wie dem Universitätsklinikum und Opta Data. Da gibt es inhaltlich für uns viele Schnittstellen. Deshalb ergibt es viel Sinn, unsere Gruppe mit rund 310 Beschäftigten in acht Ländern von Essen aus zu steuern.
Hat Sie die hohe Gewerbesteuer im Ruhrgebiet nicht abgeschreckt?
Weißhaar: In der Tat werden wir in Essen im Vergleich zu Hamburg einen ordentlichen Betrag für die Gewerbesteuer mehr zahlen. Wir sind aber zuversichtlich, dass wir das an anderer Stelle wieder aufwiegen können. Im Ruhrgebiet gibt es mehr Fachkräfte, und die Mieten sind günstiger. Das ist wichtig für die Beraterinnen und Berater, die für uns arbeiten. Wir stellen ständig neu ein.
Trotz der hohen Gewerbesteuer haben sich im Revier eine ganze Reihe von Software-Schmieden etabliert. Hilft die räumliche Nähe zu Ihrer Branche?
Weißhaar: Wir profitieren vor allem von dem guten universitären Umfeld. Hochschulen wie Duisburg-Essen, Mülheim, Bochum und Dortmund bilden immer mehr IT-Spezialisten aus. Dadurch entstehen Start-ups, aber auch ein großer Arbeitnehmermarkt.
Myneva hat sich auf Software für den gleichermaßen wachsenden, aber auch unter Druck stehenden Pflegesektor spezialisiert. Wie kann Digitalisierung Pflegepersonal entlasten?
Weißhaar: Die Personalknappheit trifft das gesamte Gesundheitssystem. Hinzu kommt eine drastische Unterfinanzierung. Das sehen wir an der wachsenden Zahl von insolventen Alten- und Pflegeheimen. Von den acht Stunden Arbeitszeit sollten die Beschäftigten bis zu zwei Stunden für Dokumentationsarbeiten aufwenden. Dafür ist aber gar keine Zeit. Sie kommen gerade einmal auf eine Stunde pro Tag. Zeit ist ohnehin ein rares Gut in der Pflege. Auf der Leitmesse Altenpflege in Essen zeigen wir erstmals eine komplette mobile Spracherkennung, die das lästige Eintippen in den Laptop überflüssig macht. Dadurch lassen sich 30 bis 50 Prozent der Zeit, die für Dokumentation anfällt, einsparen.
Neben der Zeit fehlen vielen Pflegenden auch sprachliche Kenntnisse, weil sie zugewandert sind. Kann hier künstliche Intelligenz ebenfalls helfen?
Weißhaar: Absolut. Wir haben die Spracherkennung mit einer Übersetzungsfunktion gekoppelt. Die Pflegekraft kann Angaben über Temperatur, Blutdruck und sonstiges in ihrer Muttersprache einsprechen. In der elektronischen Dokumentation werden die Daten dann auf Deutsch hinterlegt. Auch das erspart enorm viel Zeit und erhöht die Qualität.
Wie gewährleisten Sie dabei Datenschutz?
Weißhaar: Wir nutzen keine externe KI-Plattform, sondern haben eigene KI-Services entwickelt, bei denen das Thema Datenschutz elementar ist.
Viele Menschen wollen so lange zu Hause leben, wie es irgendwie geht. Welchen Beitrag kann digitale Technik leisten, um das zu ermöglichen?
Weißhaar: Wir haben eine Software entwickelt, die den Hausnotruf mit neuen Funktionen verknüpft. Ein Sensor eines Kooperationspartners an der Decke, der aussieht wie ein Rauchmelder, überwacht den Raum und erkennt, wenn ein Mensch stürzt oder wenn er Probleme beim Atmen oder mit der Herzfrequenz bekommt. Dann löst der Sensor einen Alarm aus. Auf diese Weise wird ein langes Leben in der eigenen Wohnung ermöglicht.
Deutschland hinkt generell bei der Digitalisierung hinterher. Was läuft da falsch und wie kann gegengesteuert werden?
Weißhaar: In der Pflege haben wir eine hohe Regulatorik, die nicht an den Stand der Technik angepasst wurde. Ein Beispiel: digitale Überwachungsmöglichkeiten reduzieren den Personalbedarf. Der ist aber vorgegeben und wurde leider nie angepasst. Damit läuft die Innovation ins Leere. Und digitale Innovationen werden finanziell nicht ausreichend vom Staat gefördert. Aber nur so können wir die Pflegeversicherung entlasten. Länder wie Österreich und Finnland sind da viel weiter. Unsere neue App für die Pflegedokumentation läuft in Österreich längst. In Deutschland stellen wir sie gerade vor.
Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch große Potenziale für Softwareentwickler in Deutschland.
Weißhaar: Ja. Die Bevölkerung wird immer älter, deshalb wächst auch der Pflegebedarf jährlich um fünf bis sechs Prozent. Bei den digitalen Innovationen liegen die Wachstumsraten aber bei 20 Prozent. Deshalb hat sich die Myneva Group vorgenommen, stärker als der Markt zu wachsen. Wir haben das Ziel, Marktführer in Europa zu werden. Von dieser Wachstumsstrategie wird auch der Standort Essen profitieren.
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