Essen. Immer weniger Betriebe in NRW bezahlen nach Tarifvertrag. Ein Beispiel aus NRW zeigt, was das konkret bedeutet.

  • In NRW zahlen immer weniger Unternehmen nach Tarif.
  • Der Deutsche Gewerkschaftsbund kritisiert, dass Beschäftigte damit im Schnitt weniger Gehalt bekommen, längere Arbeitszeiten und weniger Urlaub haben.
  • In NRW erzählt ein Betriebsratsvorsitzender, welchen Unterschied der Tarif in seinem Unternehmen macht.

Für Dennis Schneider war das Maß voll: Als der Mitarbeiter eines großen Getränkeherstellers aus NRW erfuhr, dass Kollegen trotz Vollzeitstelle einen Mietzuschuss beim Sozialamt beantragen mussten, um mit ihren drei Kindern über die Runden zu kommen, hatte Dennis Schneider genug.

„Diese Zuschüsse wurden den Kollegen sogar bewilligt, so gering war das Einkommen“, erinnert sich der heute 43-Jährige. Zu viele erfahrene Kollegen hätten den Betrieb verlassen. „Das konnten wir uns nicht mehr leisten.“ 2021 plante Schneider, einen Betriebsrat zu gründen. Sein Ziel: seinen Arbeitgeber davon zu überzeugen, nach vielen Jahren traditionsreicher Unternehmensgeschichte in den Branchentarifvertrag einzusteigen.

Rückgang um 50 Prozent: Weniger als jeder dritte Betrieb in NRW zahlt nach Tarif

Gewerkschaften beklagen, dass die Zahl der Betriebe mit Tarifbindung zunehmend sinkt. Nach neusten Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB)zahlt weniger als jedes dritte Unternehmen in NRW nach Tarif. Im Jahr 2000 waren es noch 58 Prozent, fast doppelt so viele. Da vor allem größere Firmen tarifgebunden sind, wird trotz des Rückgangs immer noch mehr als jeder zweite Beschäftigte in NRW nach einem von Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelten Vertrag entlohnt.

Zu wenig, sagt der DGB. Mit Tarifverträgen gebe es höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und mehr Urlaub. Landeschefin Anja Weber rechnete unlängst vor: Über alle Branchen und Berufe hinweg verdiene ein Beschäftigter im tariflosen Unternehmen 2.917 Euro weniger im Jahr als sein Kollege im tarifgebundenen Betrieb. Der DGB spricht von einem immensen volkswirtschaftlichen Schaden.

Nachtschichten, damit der Monatslohn am Ende stimmt

Dennis Schneider (43) arbeitet seit über zwei Jahrzehnten in einem Betrieb, der Getränke herstellt.
Dennis Schneider (43) arbeitet seit über zwei Jahrzehnten in einem Betrieb, der Getränke herstellt. © FUNKE Foto Services | Martin Möller

Dennis Schneider hat mit Anfang 20 bei dem Getränkehersteller angefangen. Als Kommissionierer auf Akkord habe er sechs Euro in der Stunde und zwei Cent je verpackter Kiste verdient. Bis zu 4000 Kisten habe er am Tag geschafft, sei aber auf Nachtzuschläge angewiesen gewesen, um Geld zu verdienen. Schneider berichtet, dass vor allem im Lager und bei Kraftfahrern der Unmut gewachsen sei, weil die Kluft zu tarifgebundenen Konkurrenzbetrieben immer größer geworden sei. „Es gab aber auch eine große Ungleichheit unter den Kollegen. Das hat den Betriebsfrieden gestört.“

In tarifgebundenen Unternehmen handeln die Gewerkschaftenregelmäßig ein Lohnplus aus, zudem steigt das Gehalt mit der Berufserfahrung. Bei Schneiders Arbeitgeber habe ein Neuling in Zeiten des Arbeitskräftemangels schon mal 1500 Euro mehr im Monat verdient als ein langjähriger Kollege, dem das Verhandeln um mehr Lohn nicht gelegen habe. „Die alte Lohnstruktur gleicht einer Tüte Glückskekse, überall steht etwas anderes drauf.“ Frauen seien strukturell benachteiligt gewesen, einzelne Bereiche des Unternehmens ebenfalls. „In der Produktion bekam jemand dreimal so viel, wie er im Tarif verdient hätte. Andere bekamen 1000 Euro weniger im Monat, obwohl sie das Gleiche machten wie Kollegen in anderen Firmen der Branche.“

Es gab eine große Ungleichheit unter den Kollegen. Das hat den Betriebsfrieden gestört.
Dennis Schneider - Freigestellter Betriebsrat aus NRW

Auch Arbeitszeit sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld seien ungleich geregelt gewesen. Zum Jahresende hätten kaufmännische Angestellte ein 13. Monatsgehalt bekommen. Staplerfahrer seien 450 Euro Sondergratifikation bei mehr als 15 Tagen Krankheit gekürzt worden. Und krank seien viele geworden: In einzelnen Bereichen seien bis zu 40 Prozent der Belegschaft ausgefallen.

38-Stunden-Woche für alle: „Abwanderung ist gestoppt“

2022 gründete die Belegschaft einen Betriebsrat, Schneider wurde sein freigestellter Vorsitzender. Über zurückliegende Streitigkeiten mit seinem Arbeitgeber will er nicht mehr allzu viele Worte verlieren - „Ich habe mit Dauerwelle angefangen, jetzt habe ich eine Glatze“, sagt er und schließt an, dass man auf einem guten Weg miteinander sei. „Wir haben die Anerkennung des Branchentarifvertrags, das ist unser Erfolg. Und wir sind jetzt in der fünften Verhandlungsrunde für einen Gehaltstarifvertrag.“

Jetzt gibt es eine 38-Stunden-Woche für alle und ein 13. Monatsgeld zu Weihnachten. Endet die fünfte Verhandlungsrunde für den Gehaltstarif im Mai erfolgreich, gebe es eine feste Lohnstruktur, die nach Bereich, Firmenzugehörigkeit und Verantwortung im Unternehmen unterscheidet – aber auf dem gleichen Niveau liege wie Konkurrenzfirmen.

Unternehmen widerspricht „in einzelnen Punkten deutlich“

Zufrieden seien trotzdem nicht alle. „Die meisten sind froh, dass sie nun Sicherheit und Klarheit haben. Aber wir haben auch Verlierer, die derzeit deutlich über Tarif verdienen und erst einmal auf ihrem Gehalt bleiben, wenn sie nicht selbst nachverhandeln.“ Schneider ist sich sicher, dass sein Arbeitgeber vom Tarif profitiere: „Wenn es gleiches Geld für gleiche Arbeit gibt, bleiben die Leute.“ Schon jetzt merke er: Die Abwanderung in Konkurrenzbetriebe sei gestoppt.

Das Unternehmen selbst, dessen Name dieser Redaktion bekannt ist, erklärt auf Anfrage, man widerspreche einzelnen Punkten deutlich. Details werden nicht benannt. Der Betrieb betont, dass man noch in Tarifverhandlungen stehe.