Dortmund. Es ist ihre vierte Insolvenz bei Karstadt. Eine Dortmunder Kaufhaus-Mitarbeiterin spricht über ihr Gefühlschaos und ihre Hoffnungen.
Ob sich ihr Vater damals wohl geirrt hat, beschäftigt Nadine Hirsch in diesen Tagen einmal mehr. „Geh nach Karstadt, da biste sicher bis zur Rente“, hatte er gesagt, als sie überlegte, wo sie ihre Ausbildung machen sollte. Vor 28 Jahren war das. Seitdem hat sie drei Insolvenzen miterlebt, macht gerade die vierte durch. Und hat wieder nicht vor, hinzuschmeißen. „Wir Kolleginnen haben uns hier gesagt: Zur Not schließen wir den Laden am Ende ab.“
Galeria Karstadt Kaufhof ist in dieser Woche erneut zum Insolvenzgericht in Essen gegangen. Wie es denen damit geht, die in den schon so oft totgesagten Warenhäusern arbeiten und nun schon wieder bangen müssen, fragen sich viele. Doch die allermeisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möchten nicht darüber reden, schon gar nicht mit der Presse. Nadine Hirsch redet, und zwar frei heraus.
Seit 28 Jahren bei Karstadt - „da biste sicher“, meinte Papa
Sie arbeitet seit 28 Jahren für Karstadt, ist Kassiererin im Dortmunder Karstadt-Haus am Westenhellweg. Zweimal stand es 2020 und 2023 bereits auf der Schließungsliste, wurde jeweils in letzter Minute gerettet. Mit der Insolvenz von 2009 und der aktuellen befindet sich Nadine Hirsch nun zum vierten Mal in dieser Lage, die niemand auch nur einmal erleben will. Auch sie wollte das nicht, sagt aber: „Wir sind über all die Insolvenzen enger zusammengewachsen, sind eine kleine Familie geworden hier. Deshalb arbeite ich trotz allem immer noch gerne hier.“
Die 45-Jährige lächelt viel, erzählt gern aus ihrem Berufsleben, etwa wenn sie erklärt, warum Männer beim Schuhkauf pfleglicher sind als Frauen, die gern unzählige offene Kartons in den Gängen verteilen. Dabei lacht sie sogar. Doch die vergangenen Jahre waren nicht lustig. Bei der Insolvenz zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 sei es besonders emotional geworden. Schließlich schien damals früh klar, dass neben etlichen anderen auch die Karstadt-Filiale in Dortmund schließen werde.
Ende Oktober sei es vorbei, hieß es damals. „Damit war ich völlig überfordert, habe viel geweint zu Hause.“ Als ihre Filiale dann in letzter Minute doch noch gerettet wurde, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Doch als nur zwei Jahre später die nächste Insolvenz kam, fuhr die Gemütsachterbahn erneut Schuss. Es folgten lange Monate der Ungewissheit. Erst im März 2023 war klar: Dortmund steht wieder auf der Schließungsliste.
„Die lange Zeit der Ungewissheit ging an die Nerven“
„Die lange Zeit ging an die Nieren. Dass es uns wieder treffen sollte, wollten wir zuerst nicht glauben“, erinnert sie sich. Denn bei Belegschaftsversammlungen hätten sie in Dortmund oft gesagt bekommen, dass ihre Filiale gut laufe, die Umsätze im grünen Bereich seien. „Da fragten wir uns schon: Wo ist das ganze Geld hin? Wo sind die 680 Millionen Steuergelder vom Staat geblieben?“
Diesmal schien es wirklich vorbei, alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kaufhaus erhielten die Kündigung. „Wenn man den Brief öffnet und liest ,Es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen ...‘, fragt man sich schon: Wofür habe ich so lange gekämpft und verzichtet?“ Seit 2004 haben die Beschäftigten bei Karstadt immer wieder auf Gehalt verzichtet, um einen Beitrag zur Sanierung zu leisten. Nur brachte keine Insolvenz eine echte Sanierung.
Karstadt-Kassiererin: Hatte schon einen Termin für Bewerbungsgespräch
„Mit der Kündigung in der Hand hatte ich abgeschlossen, bin zum Arbeitsamt gegangen, habe Stellenanzeigen durchforstet und bereits einen Termin für ein Vorstellungsgespräch gehabt.“ Es fand nicht statt – denn Karstadt in Dortmund wurde nach erneuter Intervention aus der Politik und erfolgreichen Verhandlungen mit dem Vermieter ein zweites Mal kurz vor knapp von der roten Liste gestrichen.
Anders als noch 2020 löste das aber keine Euphorie bei ihr aus, zu viele waren schon wieder weg. Warum sie nicht zu dem Vorstellungsgespräch gegangen sei? „Ich hatte Angst vor was Neuem“, gibt Nadine Hirsch ganz offen zu. Denn sie mag die Arbeit hier. Und als es dann doch wieder weiterging, sei das Team noch einmal enger zusammengerückt. „Früher hat in der Mitarbeiterkantine jede Abteilung für sich gegessen, die Herrenabteilung, Damenoberbekleidung, die Kassiererinnen und all die anderen. Heute sitzen alle zusammen.“ Was natürlich auch die bittere Wahrheit enthält, dass eben sehr viele nicht mehr da sind. Früher gab es mal vier Filialen in Dortmund.
Warum ist es diesmal nicht so schlimm? „Wir haben ja schon Übung“
Nur ein gutes halbes Jahr später nun also die dritte Galeria-Insolvenz binnen vier Jahren. Was auch aus anderen Filialen im Ruhrgebiet zu hören ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diesmal gefasster sind, bestätigt Nadine Hirsch. Nach der Pleite der österreichischen Muttergesellschaft Signa Ende November sei das ja zu erwarten gewesen. „Die Ungewissheit ist wieder da, keine Frage. Aber wir haben ja schon Übung darin“ – sie lächelt wieder. Ganz ohne Galgenhumor geht es dann doch nicht in ihrer vierten Insolvenz.
Denn Nadine Hirsch hat bereits die erste Karstadt-Pleite unter dem von Thomas Middelhoff gebauten Arcandor-Dach 2009 mitgemacht. Als damals der smarte deutsch-amerikanische Milliardär Nicolas Berggruen die Warenhauskette übernahm, habe sie ihn schon als Retter gesehen. „Bis wir vier Jahre später für einen Euro verscherbelt wurden“, sagt sie. Und zwar an den nächsten Milliardär, den Österreicher René Benko, dessen Immobilien- und Handelskonzern Signa gerade in seine Einzelteile zerfällt. „Als wir hörten, dem geht es hauptsächlich um die Immobilien und weniger um den Handel, waren wir natürlich skeptisch.“
Nadine Hirsch redet sich einiges von der Seele, dabei macht sie das gar nicht so gern. Natürlich werde sie in der Familie und von Nachbarn ständig angesprochen. „Weihnachten, als sich das ja schon abzeichnete, habe ich das Thema abgeblockt, wollte wirklich nicht darüber reden“, erzählt sie. Dass der Papa womöglich falsch lag mit Karstadt als Rentengarantie, ist kein schönes Gesprächsthema fürs Fest. Mehr als ein „Oma, mach Dir keinen Kopp“, sei nicht drin gewesen.
Galeria-Kunden stechen ohne es zu wollen in die offene Wunde
Im Kaufhaus kann sie dem an der Kasse nicht aus dem Weg gehen. Da gibt es die Grantler, die es schon immer wussten, nicht in der Schlange stehen mögen und rufen: „Deswegen machen Sie auch zu.“ Die meisten aber wollen Mut machen, drücken die Daumen und wünschen, dass Karstadt am Westenhellweg bleibt. Aber die so nett gemeinten Wünsche richten sie nicht auf, sondern ziehen sie jedes Mal eher runter, weil wieder jemand, ohne es zu wollen und sich dessen bewusst zu sein, in die offene Wunde sticht.
Ein älterer Herr, der sich ärgert, weil sie ihm eine Frage nicht beantworten kann, trifft aber auch einen wahren Kern. Nadine Hirsch hat so ziemlich alle Abteilungen durch, hat nach der Ausbildung im Bettwarenbereich begonnen, später in der Badezimmer-Abteilung, im Schuh- und Lederwarenbereich. Früher, als jede Abteilung noch ihre eigene Kasse hatte, hätten sie beides gemacht – auf der Fläche beraten und kassiert. Da wusste jeder, was wo liegt und was aus ist. Mit der Spezialisierung ab 2015 war damit Schluss – seitdem steht sie nur noch an der Kasse.
Wunsch nach mehr Eigenverantwortung für Karstadt-Filialen
Das und vieles mehr hätte nicht nur sie in Dortmund gern anders gemacht, „aber alles wurde aus der Zentrale vorgegeben“. Deshalb hofft sie, dass ein altes Versprechen im Zuge dieser Insolvenz nun endlich eingelöst wird: Mehr Eigenverantwortung an die Filialen abzugeben. „Was die Leute hier in Dortmund haben wollen, wissen unsere Verkäuferinnen am besten“, sagt Hirsch. Schließlich müssten sie oft genug sagen, „Haben wir nicht“, wenn Kunden etwa nach bestimmten Modemarken fragten.
Der neue Galeria-Chef Olivier van den Bossche hat genau das wie schon seine Vorgänger versprochen. Zusammen mit Insolvenzverwalter Stefan Denkhaus hat er die Botschaft ausgesendet, diese Insolvenz sei „ein Befreiungsschlag“, weil sich Galeria so von Signa und Benko lösen könne. Ob die Botschaft angekommen sei? „Na ja, eine Insolvenz klingt erstmal nicht nach Befreiung“, sagt Nadine Hirsch. Trotzdem verbindet auch sie Hoffnungen damit, Benko loszuwerden. In den beiden Schutzschirmverfahren 2020 und 2023 sei „nichts besser geworden“, sagt sie, „ich hoffe, dass sich diesmal in Essen wirklich etwas ändert.“
Für die Stimmung nicht gut ist der Zeitpunkt, mit dem Februar naht ein stets schwacher Monat. „Wenn ich manchmal abends über die Etage blicke, frage ich mich schon: Wer soll den Laden kaufen?“ Einen neuen Eigentümer zu finden, ist das erklärte Ziel des Insolvenzverwalters. Nadine Hirsch hängt an ihrem Karstadt: „Wenn das irgendwann nicht mehr ist, wäre das schon sehr traurig“, sagt sie ernst. Und dann? Sie hebt den Blick und fügt trotzig an: „Dann öffnet sich eine neue Tür.“