Essen. Verdi-Vorstand Stefanie Nutzenberger übt Kritik am „Kaputtsparen“ der Warenhäuser und warnt, dass Galeria-Beschäftigte in Altersarmut abrutschen.
Zum zweiten Mal innerhalb von nur zwei Jahren hat sich der Essener Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof in ein Insolvenzverfahren gerettet. Die Interessen der 17.400 Mitarbeitenden vertritt die Gewerkschaft Verdi. Im Interview spricht Stefanie Nutzenberger, Mitglied im Verdi-Bundesvorstand und früher selbst Verkäuferin bei Karstadt in Kaiserslautern, über Verfehlungen und Chancen und erklärt, warum sie den Galeria-Eigner René Benko am Zuge sieht.
Frau Nutzenberger, können Sie die Argumentation von Galeria-Chef Miguel Müllenbach nachvollziehen, dass viele Filialen aufgrund hoher Energiepreise und der aktuellen Konsumzurückhaltung nicht wirtschaftlich zu betreiben seien?
Stefanie Nutzenberger: Aus seiner Sicht mag das so sein. Aus meiner ist es sehr kurz gesprungen, weil es die eigenen Entscheidungen und Fehlentscheidungen völlig ausblendet und die ganze Misere auf die Rahmenbedingungen schiebt. Die notwendige Umsteuerung, schnelle und adäquate Reaktion auf Krisen und vor allem die dringend notwendigen Investitionen durch den Eigentümer sind unterblieben. Das Management hat in unseren Augen wichtige Erkenntnisse aus einer breit angelegten Zukunftsbefragung von tausenden Beschäftigten einfach brach liegen lassen. Darin wurde zum Beispiel immer wieder darauf hingewiesen, dass besonderen die regionalen Gegebenheiten viel stärker beachtet und die Spielräume der lokalen Verantwortlichen erweitert werden müssen
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Das 2020 aufgelegte Sanierungskonzept, dem bereits 4000 Arbeitsplätze und 40 Filialen zum Opfer gefallen sind, hat keine zwei Jahre getragen. Hätte der Schnitt damals härter ausfallen müssen?
Nutzenberger: Die Frage ist meines Erachtens umgekehrt zu stellen: Ist ein Sanierungskonzept, das sich auf Schließungen und Entlassungen gründet, ein kluges Konzept? Der Schnitt bei den Beschäftigten ist damals schon dramatisch ausgefallen. Am Beispiel einer Galeria-Verkäuferin wird das deutlich: Sie verzichtet auf zirka 5500 Euro im Jahr für die Sicherung ihres Arbeitsplatzes, ihrer Filiale und ihres Unternehmens. So wurden viele Millionen Euro in die Kassen des Warenhaus-Konzerns gespült.
In Hochrechnungen ist von fast einer Milliarde Euro die Rede, auf die Galeria-Beschäftigte im Laufe der Jahre verzichtet haben.
Nutzenberger: Die Beschäftigten haben in den letzten Jahren trotz schlechter Betriebskonzepte, fehlender Investitionen und der bekannten Krisen den Laden buchstäblich am Laufen gehalten. Jetzt ist der Eigentümer gefragt, mit seinem vorhandenen finanziellen Mitteln und mit seinem Management das Ruder herumzureißen. Trotz aller Unkenrufe ist es nicht zu spät. Aber eines ist klar: ein „Weiter so“ wäre katastrophal. Die Zukunft der Warenhäuser braucht Aufbruchstimmung und kein Kaputtsparen. Eine Gestaltung der Zukunft funktioniert nur, wenn das Wissen der Beschäftigten genutzt wird.
Was konkret fordert Verdi vom Galeria-Eigner René Benko?
Nutzenberger: René Benko muss seine Verantwortung für 17.400 Beschäftigte und ihre Familien übernehmen und dringend notwendige Investitionen für das Filialkonzept und die Zukunft des Unternehmens tätigen. Jeder Euro der fehlt, würde zu mehr Häuserschließungen und zur Vernichtung von Arbeitsplätzen führen.
Wo sehen Sie aus Gewerkschaftssicht geeignete Stellschrauben, um Galeria wieder profitabel zu machen?
Nutzenberger: Die Kauf- und Warenhäuser haben eine Zukunft. Alle Filialen sind zukunftsfähig, wenn entsprechende Investitionen fließen. Ein tragfähiges Zukunftskonzept hängt ganz wesentlich vom Ausbau der Digitalisierung und dem Zusammenspiel von stationären und digitalen Dienstleistungen ab. Hier könnte das Warenhaus Galeria, das bundesweit Standorte in besten Lagen besitzt, ein Alleinstellungsmerkmal nutzen. Die entscheidende Stellschraube ist das Wissen und die Kompetenz der Beschäftigten. Sie sind Gold wert, weil ein digital-stationäres Warenhaus mit Service und Beratung – also hoher Personalkompetenz und -ausstattung – eine ernsthafte Konkurrenz zum reinen Onlinehandel ist.
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Die Bundesregierung war zuletzt zögerlich, Galeria weitere Staatskredite zu gewähren. Sind Sie enttäuscht?
Nutzenberger: Dafür ist keine Zeit. Wir erwarten jetzt eine wirksame Unterstützung, um beim Eigentümer Benko dringend notwendige Investitionen für die Zukunft des Unternehmens durchzusetzen. Vor uns liegt ein intensiver Kampf um jeden Arbeitsplatz. Dazu brauchen die Beschäftigten Unterstützerinnen und Unterstützer sowie Bündnispartnerinnen aus allen Bereichen der Gesellschaft, auch aus der Politik.
Wie beurteilen Sie aktuell die Chancen für Galeria-Mitarbeitende, in anderen Einzelhandels-Unternehmen alternative Stellen zu finden?
Nutzenberger: Für viele unserer Kolleginnen und Kollegen bei Galeria ist ihr Arbeitsplatz auch ein Stück Familie. Etliche arbeiten seit Jahren zusammen. Menschlichkeit sollte auch zum Job gehören. Dies vorweg geschickt. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt gestalten sich regional sehr, sehr unterschiedlich. Grundsätzlich sind Beschäftigte bei Galeria gut ausgebildet, haben eine hohe soziale Kompetenz und können schnell reagieren – solche Personen sind natürlich gefragt. Aber auf welchen Arbeitsmarkt treffen sie vor Ort? Wir reden mehrheitlich über Frauen, die in Teilzeit arbeiten, seit vielen Jahren dem Unternehmen angehören, ortsgebunden und von Altersarmut bedroht sind.
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Die wenigsten Einzelhändler zahlen aber nach Tarif.
Nutzenberger: Nicht selten treffen wir in Regionen auf prekäre Arbeitsbedingungen in Einzelhandels-Unternehmen. Tarifverträge sind dort eher die Ausnahme. ver.di setzt sich seit Jahren für eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Handel ein. Das heißt, jedes Unternehmen muss mindestens nach Tarif zahlen und den jeweiligen Tarifvertrag anwenden. Das wäre ein wichtiger Baustein gegen Lohndumping im Handel und für soziale Gerechtigkeit, den die Politik setzen muss. Dann gäbe es wenigstens die Möglichkeit, den Job ohne finanzielle Verluste zu wechseln.