Essen. Westenergie-Chefin Katherina Reiche will vor dem Winter noch keine Entwarnung in der Gaskrise geben – und ruft zum Energiesparen auf.
Dort, wo in früheren Jahren Manager wie Jürgen Großmann, Harry Roels oder Peter Terium den Energiekonzern RWE lenkten, arbeitet jetzt Katherina Reiche. Der Büroturm am Essener Opernplatz 1 ist nun das Gebäude er Eon-Tochterfirma Westenergie, an deren Spitze die ehemalige Staatssekretärin Katherina Reiche steht. Kilometerlange Gas- und Stromnetze sowie zahlreiche Stadtwerke-Beteiligungen gehören zum Unternehmen. Im Gespräch mit unserer Redaktion erzählt Westenergie-Chefin Katherina Reiche, wie sie die Gaskrise meistern will.
Frau Reiche, ist Deutschland gewappnet, sollte es im kommenden Herbst oder Winter zu einem Stopp der Gaslieferungen aus Russland kommen?
Reiche: Die Bundesregierung hat jedenfalls wichtige und richtige Weichen gestellt. Die deutschen Gasspeicher sind zu drei Viertel gefüllt. Der Fahrplan für LNG-Terminals steht. Und Deutschland geht neue
Energiepartnerschaften ein – etwa für Wasserstoff. Doch für eine Entwarnung ist es zu früh. Als Vorsorge sind auch Energiesparmaßnahmen zentral. Und dabei kommt es auf jeden Einzelnen an – auf Privathaushalte und Unternehmen. Nur gemeinsam und nur mit der richtigen Haltung wird es möglich sein, einen akuten Gasmangel in unserem Land zu vermeiden.
Blicken Sie mit Sorge auf den Winter?
Reiche: Als Netzbetreiber sind wir sehr gut vorbereitet. Wir stimmen uns eng mit den Kommunen, unseren Kunden und Partnern ab. Wir kennen ihre Bedarfe und haben eine gute Datenlage, auch mit Blick auf mögliche Einsparpotenziale. Aber nicht alles liegt in unserer Hand. Das Wetter ist ein Faktor, der nicht zu beeinflussen ist, zum Beispiel, wie kalt und lang der Winter wird. Oder die Frage, wie viel russisches Gas weiterhin nach Europa und Deutschland fließt.
Sollte tatsächlich der Fall eintreten, dass in einem Stadtteil kein Gas mehr ankommt, wäre der Schaden enorm. Praktisch zu jedem Haus müssten Techniker ausrücken, um die Anlagen wieder in Gang zu bringen. Ist es auch deshalb wichtig, dass private Haushalte im Vergleich zur Industrie einen besonderen Schutz genießen?
Reiche: Zunächst einmal haben wir eine klare Gesetzeslage. Und daran halten wir uns als Netzbetreiber. Grundlegende soziale Dienste und Haushaltskunden sind geschützt und müssen versorgt werden. Die entscheidende Botschaft ist: Wir hängen alle am selben Netz. Gäbe es tatsächlich Engpässe bei der Versorgung der Haushalte, wären Unternehmen genauso betroffen. Es ist technisch nur in Einzelfällen möglich, einen Straßenzug abzustellen. Netztechnisch muss ein Mindestdruck im ganzen Gas-System vorhanden sind, sonst funktioniert es nicht.
Bei den Gasnetzen in Deutschland gibt es allerdings starke regionale Unterschiede. Wie schätzen Sie die Situation in NRW ein?
Reiche: In Nordrhein-Westfalen verfügen wir über eine sehr gute Infrastruktur – Binnenhäfen, Flughäfen, gut ausgebaute Energienetze. Auch die Nähe zu Belgien und den Niederlanden ist von entscheidender Bedeutung. In Belgien etwa ist mit dem Port of Antwerp-Bruges im April 2022 der größte Exporthafen Europas in unserer Nachbarschaft entstanden. Bereits heute laufen mehr als 15 Prozent des gesamten europaweiten Gas-Transitverkehrs hierüber. Das ist eine gute Ausgangssituation.
Lässt sich schon ein verändertes Verbrauchsverhalten in den Haushalten und Betrieben feststellen?
Reiche: In der ersten Jahreshälfte ist der Gasverbrauch in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen. Gleiches gilt für Strom. Nach unserem Branchenverband für die Energie- und Wasserwirtschaft BDEW hat der milde Winter dabei sicher eine Rolle gespielt. Es ist aber auch davon auszugehen, dass die steigenden Energiepreise zu Einsparungen geführt haben. Wie ernst die Lage ist, kommt bei den Bürgerinnen und Bürgern ohne Zweifel an.
Lässt sich flächendeckendes Energiesparen überhaupt organisieren?
Reiche: Mit großen Unternehmen sind wir im Gespräch. Schon aus betriebswirtschaftlicher Sicht passen die Betriebe ihre Prozesse an, sparen Energie oder wechseln den Brennstoff. Wichtig ist die Mitwirkung von Millionen Haushalten. Hier kommt es darauf an, dass jeder Verantwortung übernimmt und seinen Beitrag leistet.
Erwarten Sie über den Jahreswechsel 2022/23 auch für den darauffolgenden Winter eine harte Zeit?
Reiche: Auch wenn wir den anstehenden Winter gemeistert haben sollten, die heutigen Herausforderungen sind tiefgreifender Natur. Sie werden noch lange bestehen bleiben und ihre Auswirkungen werden ebenfalls noch lange zu spüren sein. Wir dürfen mit unseren Anstrengungen also nicht nachlassen.
Die Nachfrage nach elektrisch betriebenen Heizlüftern ist wegen der Gaskrise enorm gestiegen. Was halten Sie davon?
Reiche: Wirtschaftlich gesehen sind diese Geräte nicht die erste Wahl. Die Stromrechnung würde sich substanziell erhöhen. Und durch den Mehrbedarf an Strom sind lokale Überlastungen in den Stromverteilnetzen grundsätzlich nicht ausgeschlossen. Wenn jeder zweite der rund 20 Millionen Haushalte in Deutschland, die heute mit Gas heizen, gleichzeitig einen Heizlüfter von zwei Kilowatt einsetzen würde, käme auf das Stromsystem eine zusätzliche Last von 20 Gigawatt zu, also etwa 1/4 mehr im Vergleich zu einem Durchschnittstag. Es geht also weniger darum, den Verbrauch zu verlagern. Und somit wären wir wieder beim Thema Energiesparen.
Nicht nur Erdgas, sondern auch Strom ist teuer wie noch nie. Befinden wir uns nicht nur in einer Gas-, sondern auch in einer Stromkrise?
Reiche: Natürlich muss neben einer möglichen Gasmangellage auch die Stromversorgung im Blick behalten werden. Die Verantwortung für die Stabilität der Stromversorgung im Gesamtsystem liegt grundsätzlich bei den Übertragungsnetzbetreibern. Daher überprüfen diese derzeit im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums die Sicherheit der Stromversorgung unter verschärften Bedingungen.
Ist die aktuelle Krise auch eine Folge von Versäumnissen der Regierungen und Unternehmenslenker?
Reiche: Bei all den Diskussionen zum Umbau der Stromerzeugung, zum Ausstieg aus Kohle und Kernkraft und zum Ausbau der erneuerbaren Energien rückten in der Vergangenheit geostrategische Fragen der Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit von Energie in den Hintergrund. In Deutschland haben wir uns der Illusion hingegeben, Energie sei einfach vorhanden. Das rächt sich nun. Aber ich registriere ein Umdenken. Es wird wieder mehr in Szenarien gedacht, auch in Extrem-Szenarien. Das ist gut, denn die Politik und die Unternehmen brauchen ein höheres Maß an geostrategischer Weitsicht.
Zur Westenergie gehören rund 130 Stadtwerke-Beteiligungen des Eon-Konzerns – mit kommunalen Unternehmen wie ELE in Gelsenkirchen, RWW in Mülheim, DEW 21 in Dortmund, den Stadtwerken in Duisburg, Essen, Velbert und Ratingen oder Rhein-Energie in Köln. Wie beurteilen Sie die Lage der Stadtwerke?
Reiche: In den allermeisten Fällen haben sich die Stadtwerke beim Energieeinkauf gut aufgestellt. Das sorgt trotz der unsicheren Gemengelage für eine gewisse Stabilität. Die Stadtwerke können sich aber nicht von der allgemeinen Entwicklung steigender Energiepreise entkoppeln. Die höheren Preise werden zunehmend an die Kunden weitergegeben – früher oder später.
Hinzu kommt nun die Gas-Umlage, die insbesondere den Düsseldorfer Energiekonzern Uniper retten soll, der viele Stadtwerke beliefert. Ist es fair, die Kosten der Gaskrise auf die Verbraucherinnen und Verbraucher abzuwälzen?
Reiche: Die aktuellen Herausforderungen sind absolut außergewöhnlich. Es ist richtig, dass die Bundesregierung bei ihren Maßnahmen am Anfang der Gas-Lieferkette bei den Gas-Importeuren ansetzt. Diese müssen wegen der Gaslieferkürzungen Ersatzmengen beschaffen und das zu extrem steigenden Preisen. Ein Dominoeffekt im Energiemarkt muss unter allem Umständen vermieden werden. Die Energieversorgungssicherheit muss unter allen Umständen aufrechterhalten werden. Die schnelle und verlässliche Weitergabe von Ersatzbeschaffungskosten durch Umlagen ist daher eine wichtige Maßnahme, die allerdings alle Verbraucher belastet. Es ist daher auch richtig, dass die Bundesregierung rasch Maßnahmen zur Entlastung der Privathaushalte und Unternehmen umsetzen will. Die Lasten müssen fair und gleichmäßig verteilt werden.
Müssen die Stadtwerke als kommunale Betriebe, die der Daseinsvorsorge dienen sollen, wegen der Gaskrise Abstriche bei den Gewinnen machen? Welche Position hat Westenergie als Miteigentümerin?
Reiche: Die Frage nach Gewinnmargen der Stadtwerke richtet sich zunächst einmal an die jeweiligen Geschäftsführungen. Als Westenergie haben wir Minderheitsbeteiligungen. Klar ist: Wie alle anderen Unternehmen auch brauchen die Stadtwerke tragfähige Geschäftsmodelle.
Gleichwohl dürften angesichts massiv steigender Energiepreise viele Menschen an ihre Belastungsgrenze kommen.
Reiche: Ich unterschätze zu keinem Zeitpunkt, wie groß die Belastungen durch die Energiepreise sind. Die Energieversorgung wird zunehmend zu einer Frage der sozialen Gerechtigkeit. Wir müssen jetzt wachsam sein, uns auf unsere Stärken besinnen und zusammenhalten. Hier ist auch die Politik gefordert. Die Senkung der Mehrwertsteuer auf Gaspreise von 19 auf sieben Prozent ist ein erster Schritt in die richtige Richtung.