Essen. Arbeitgeber und Ökonomen warnen vor einer Lohn-Preis-Spirale. Dabei sinken die Reallöhne im Rekordtempo und die Leute kaufen weniger ein.

Die Menschen in Deutschland können sich im dritten Jahr in Folge weniger leisten: Die Reallöhne, also das, was ihnen nach Abzug der Teuerung bleibt, sinken seit 2020, in diesem Jahr droht ein neuer Minusrekord. Denn die Lohnerhöhungen werden die Inflation von aktuell rund acht Prozent nicht annähernd ausgleichen können. Der Handel, vor allem die Supermärkte spüren bereits eine wachsende Kaufzurückhaltung. Angesichts dessen sind die Warnungen der Arbeitgeberverbände vor einer Lohn-Preis-Spirale nicht leicht zu verstehen. Versuchen wir es:

Eine sich selbst verstärkende Spirale würde in Gang gesetzt, wenn steigende Löhne zu höheren Preisen führen, was wiederum zu höheren Lohnabschlüssen führt und so weiter. Der Lohn wirkt dabei – zumindest in der Theorie – an zwei Stellen preistreibend: Als Kostenfaktor in der Produktion, den die Unternehmen über höhere Preise an ihre Kunden weitergeben. Und als Nachfrageverstärker, der ein Missverhältnis aus hoher Nachfrage und zu niedrigem Angebot schafft, das die raren Waren teurer macht.

Lohnkostenanteil bei Lebensmitteln am niedrigsten

Für die direkte Wirkung höherer Löhne auf die Produktpreise der jeweiligen Arbeitgeber ist entscheidend, wie hoch der Anteil der Löhne an den Kosten des Unternehmens ist. Das ist von Branche zu Branche sehr verschieden – der Lohnkostenanteil reicht laut einer Bundesbank-Analyse von durchschnittlich rund 15 Prozent in der Nahrungsmittelindustrie über gut 20 Prozent bei anderen Industriegütern bis zu knapp 30 Prozent bei Dienstleistungen, wobei es in einzelnen Berufen deutlich mehr sein können, etwa in einem Friseursalon knapp 60 Prozent.

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Im Durchschnitt aller Waren und Dienstleistungen geht die Bundesbank in ihrer Analyse davon aus, dass ein Lohnkostenplus von einem Prozent binnen Jahresfrist zu etwa einem Zehntel auf die Preise durchschlägt, also mit 0,1 Prozent. Dass es nicht mehr ist, verhindern Produktivitätsfortschritte und der Wettbewerb. Bei den meisten Produkten können Hersteller steigende Kosten nicht vollständig auf die Preise schlagen, vor allem exportorientierten Unternehmen tun starke Lohnerhöhungen daher weh. Aber eine sich selbst verstärkende Spirale kommt durch Tarifsteigerungen um wenige Prozent noch nicht in Gang. Zudem spielen beim aktuell größten Inflationstreiber, der Energie, die deutschen Lohnkosten praktisch keine und für die Lebensmittelteuerung nur eine geringe Rolle.

Historische Umsatzeinbrüche in den Supermärkten

Für die gefürchtete Spirale müssten die Lohnzuwächse also die Kaufkraft so sehr anschieben, dass die Preise eine von steigender Nachfrage getriebene Dynamik entwickeln. Vor allem der Handel erlebt derzeit aber das Gegenteil: Die Leute sparen im Supermarkt, im Einkaufszentrum und an der Tankstelle, wo sie nur können. Der Lebensmitteleinzelhandel erlebte zuletzt trotz der stark gestiegenen Preise nie dagewesene Umsatzeinbrüche. Was bedeutet, dass die Leute die Teuerung durch Verzicht mehr als wettgemacht haben, und zwar bei einem Umsatzminus im April von acht Prozent um etwa das Doppelte.

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Die Ungewissheit, wie sich der Krieg in der Ukraine und die Energiekrise entwickeln, „dämpft die Konsumneigung“, schreibt die Bundesbank in ihrem jüngsten Konjunkturbericht. Politik und Verbraucherschützer raten ja auch dazu, etwa für die Heizungsabrechnung 2023 jetzt schon zu sparen. Gleichzeitig raubt die Inflation den Leuten Kaufkraft. Getrieben wird die Teuerung nicht durch eine hohe Nachfrage, sondern durch ein zu knappes Angebot vieler Waren und das Durchschlagen der Energiepreise auf nahezu alle Güter und Dienstleistungen.

Ökonom Fuest mahnt zu Lohnzurückhaltung

Diesen Ist-Zustand bestätigt mit Ifo-Chef Clemens Fuest auch der prominenteste Mahner unter den deutschen Ökonomen. „Das verfügbare inflationsbereinigte Einkommen wird dieses Jahr deutlich sinken“, sagte er unlängst. Er leitet daraus dennoch die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale ab, weil die Gewerkschaften nun mit besonders hohen Forderungen dagegen hielten. „Wenn es zu Lohnsteigerungen nahe an der IG-Metall-Forderung käme, würde das zu weiteren Preissteigerungen führen, es wäre ein Schritt in Richtung Lohn-Preis-Spirale“, warnt Fuest.

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Allerdings liegen die Abschlüsse nie nahe an der Forderung, sondern meist bei etwas mehr als der Hälfte. Würde die IG Metall „wie üblich 60 Prozent ihrer Ursprungsforderung durchsetzen“, stiegen die Löhne um 4,5 Prozent, betonte Marcel Fratscher, der als DIW-Chef die Gegenposition zu Fuest vertritt. Bei einer Inflation nahe acht Prozent spreche „vieles dafür, dass die Lohnentwicklung eher zu schwach als zu stark ist“, schrieb er in der taz. Und: „Nie waren die Voraussetzungen für eine Lohn-Preis-Spirale in Deutschland in den letzten 70 Jahren weniger gegeben als heute.“

Viele erhalten dieses Jahr gar keine Lohnerhöhung

Der Blick auf die Leitindustriebranche Metall und Elektro zeigt auch nur einen kleinen Ausschnitt der Tariflandschaft. Sehr viele Branchen haben in den vergangenen beiden Pandemie-Krisenjahren langjährige Tarifverträge abgeschlossen, so dass ihre Beschäftigten in diesem Jahr geringe bis gar keine Lohnerhöhungen erhalten. So die 2,4 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst bei Bund und Kommunen, deren nächste Tarifrunde erst 2023 stattfindet. Oder die Beschäftigten der Deutschen Bahn, die zum 1. Januar dieses Jahres 1,5 Prozent mehr erhalten haben und deren Vertrag bis März 2023 läuft. Bei einer Inflation im Gesamtjahr 2022 von 7,9 Prozent, wie sie die EU-Kommission für Deutschland prognostiziert, bedeutet das einen Reallohnverlust von 6,4 Prozent.

Je älter die Abschlüsse, desto schlechter sind sie in der Regel. So dürften die 2,5 Millionen Landesbeschäftigten im öffentlichen Dienst nach der Nullrunde 2021 mit den 2,8 Prozent, die sie ab Dezember 2022 mehr erhalten, nicht zufrieden sein. Ebenso wenig die Beschäftigten im Bauhauptgewerbe mit ihren 2,2 Prozent seit April, die Bankangestellten mit 3,0 Prozent zum 1. August 2022, was alles noch vor Kriegsbeginn ausgehandelt wurde.

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Einen Inflationsausgleich schafft nicht einmal der bisher höchste Tarifabschluss in der Stahlindustrie von 6,5 Prozent für eine Laufzeit von 18 Monaten. Stattdessen erwartet die Bundesbank für dieses Jahr ein Minus bei den Reallöhnen von durchschnittlich 2,8 Prozent – das gab es noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik, das bisher größte Reallohnminus gab es 1997 mit 1,9 Prozent. In den 70er-Jahren, als es zuletzt eine ähnlich hohe Inflation gab, fingen Lohnerhöhungen im zweistelligen Prozentbereich die Teuerung mehr als auf. Es wäre das dritte Jahr in Folge mit Kaufkraftverlusten: 2020 sanken die Reallöhne in Deutschland um 1,1 Prozent, im zweiten Pandemie-Jahr um 0,1 Prozent.

Streit um Einmalzahlungen als Tarifmittel der Wahl

Weil gleichwohl auch viele Arbeitgeber unter der Energiekrise und nach wie vor unterbrochenen Lieferketten leiden, plädieren Arbeitgeber, ifo-Chef Fuest und indirekt auch Kanzler Olaf Scholz für Einmalzahlungen statt Tariferhöhungen, Scholz lobte zumindest das Vorgehen der IGBCE, die das als Brückenlösung mitmachte und ihre Tarifrunde verschob. Gewerkschafter wie IG-Metall-Chef Hofmann halten entgegen, vor allem Energie bleibe auf Jahre teuer, entsprechend müssten auch die Löhne dauerhaft auf ein höheres Niveau steigen. 663 vom ifo-Institut befragte Ökonomen geben dem Gewerkschafter Recht: Sie erwarten noch bis Mitte des Jahrzehnts weltweit hohe Inflationsraten, auch in Westeuropa werde sie sich erst 2026 wieder normalisieren.