Ruhrgebiet. Um 7,7 Prozent brachen die Umsätze im Lebensmittelbereich ein. Der Grund: die explodierenden Preise – für viele Verbraucher ein großes Problem.

„Aufgrund der Situation auf den Weltmärkten werden wir Sprünge in den Verkaufspreisen erleben, die es so noch nie gegeben hat“, ahnte Florian Scholbeck, Geschäftsführer bei Aldi Nord, bereits im April. Ein halbes Pfund Butter (Milsani) kostete damals noch 1,65 Euro. Heute kostet es 2,29 Euro – und für die aus Irland zahlt man sogar noch einen Euro mehr. Viele Verbraucher können sich das nicht mehr leisten. Der Lebensmitteleinzelhandel verzeichnete im April den größten Umsatzeinbruch seit 1994: minus 7,7 Prozent gegenüber März.

Die Menschen schauten „notgedrungen wieder verstärkt auf das Preisschild“, glaubt Dr. Christian Wulff, Leiter des Geschäftsbereichs Handel und Konsumgüter bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC. „Verzichtbare Genussmittel und teure Bio-Lebensmittel“ blieben immer häufiger im Regal; auch Fleisch, Wurst und Süßwaren landeten seltener im Einkaufskorb.

„Die Leute kaufen weniger, ganz klar“

Selbst die leckeren Erdbeeren lassen sie liegen: Patrick Appelbaum beackert zwei Hektar Erdbeerfelder in Bochum-Wattenscheid und bestätigt, was der Verband der Spargel- und Beerenbauern in Niedersachsen schon am Sonntag beklagte: „Die Leute kaufen wirklich weniger, ganz klar“. Nicht seine Stammkunden, die wüssten „Qualität, Geschmack und Haltbarkeit“ seines Obsts zu schätzen. „Aber die Spontankäufe auf dem Heimweg am Feierabend, die sind rar geworden.“

Auf zwei Hektar Fläche seines Landes hat der Wattenscheider Landwirt Patrick Appelbaum Erdbeeren angepflanzt. Sie sind günstiger zu haben als im vergangenen Jahr – und verkaufen sich doch schlechter.
Auf zwei Hektar Fläche seines Landes hat der Wattenscheider Landwirt Patrick Appelbaum Erdbeeren angepflanzt. Sie sind günstiger zu haben als im vergangenen Jahr – und verkaufen sich doch schlechter. © FUNKE Foto Services | Dietmar Wäsche

Um 30 Prozent, sagt der Landwirt, sei sein Umsatz im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Dabei liege sein Preis für ein Kilo Erdbeeren heute sogar unter dem von 2021: 8,20 Euro kostet das Kilo im Direktverkauf derzeit bei ihm; im vergangenen Jahr waren es 8,50. „Es hab gewusst, dass wird kein einfaches Jahr, und wollte mir die Kunden nicht durch höhere Preise vergraulen, Ich hab auch gehofft, dass so mehr über die Ladentheke geht.“ Doch die Rechnung wird am Ende womöglich nicht aufgehen. Beim Spargel, den Appelbaum von einem Berufskollegen bezieht und zusammen mit seinen Erdbeeren verkauft, seien die Einbrüche noch drastischer, versichert er.

„Handel musste Verkaufspreise anheben“

Den Wattenscheider Landwirt ärgert, das er immer höhere Mindestlöhne zahlen muss, während der Großhandel zugleich billige Früchte aus Ländern importiere, in denen die Pflücker unter schikanösen Bedingungen arbeiteten. „Es gibt genug Erdbeeren hier“, findet er. Trotz allem hat er fürs nächste Jahr bereits eingepflanzt. „Ich musste bestellen, da war noch kein Krieg in der Ukraine“, erklärt er.

Krieg, Corona, Inflation – an Gründen für den Anstieg der Preise für Nahrungsmittel mangelt es nicht. „Alle Lebensmittelhändler“, sagt Scholbeck, „hatten keine Chance. Hersteller und Lieferanten haben teilweise massiv mehr verlangt, da musste auch der Handel die Verkaufspreise anheben, wenn die Regale nicht leer bleiben sollten.“ Auf 8,6 Prozent bezifferte das Statistische Bundesamt in dieser Woche den Preisanstieg für Nahrungsmittel im Vergleich zu Vorjahresmonat, Speisefette und -öle wurden sogar um gut 20 Prozent teurer – und ein Ende ist damit wohl nicht erreicht. Bislang hätten die Händler weniger als die Hälfte der höheren Erzeugerpreise auf die Verbraucher umgelegt, glaubt Aurélien Duthoit, Branchenexperte de Kreditversicherers Allianz Trade: „Das Schlimmste kommt auf die Haushalte erst noch zu.“ Einer gerade veröffentlichten Studie von Allianz Trade zufolge werden die Preise im deutschen Lebensmitteleinzelhandel in diesem Jahr um mehr als zehn Prozent anziehen; das entspräche durchschnittlich 250 Euro Mehrkosten pro Kopf.

Es kommen kaum noch Kunden, „alle sparen für den Urlaub“

Landwirt Burkhard Sage /r.) mit Sohn Moritz im Kuhstall: Er betreibt in Kirchhellen „tierfreundliche und soziale Landwirtschaft“.
Landwirt Burkhard Sage /r.) mit Sohn Moritz im Kuhstall: Er betreibt in Kirchhellen „tierfreundliche und soziale Landwirtschaft“. © FUNKE Foto Services | Lutz von Staegmann

Die PwC-Experten fürchten sogar, dass sich etwa Fleisch- und Wurstwaren um bis zu 50 Prozent verteuern könnten, wenn die Kosten für Futtermittel, Dünger, Diesel und Strom weiter explodierten. Der Deutsche Bauernverband fordert bereits staatliche Hilfen, das könne man nicht alleine schultern. Der Bottroper Landwirt Burkhard Sagel, der 2016 komplett auf tierfreundliche Haltung umgestellt hat und in Kirchhellen hochwertiges Fleisch von Schwein und Rind anbietet, stellt den Hof-Verkauf in den kommenden Sommermonaten komplett ein: Es kämen kaum noch Kunden, „alle sparen für den Urlaub“. Seit 2020 sei sein Umsatz um 20 bis 30 Prozent gesunken. Der „Bezug zum Produkt“ gehe den Verbrauchern allerdings auch zunehmend verloren; viele wollten „nur billig satt werden“, klagt er. Ihn mache das wütend, für andere Dinge sei das Geld doch da: Zigaretten oder teure Kleidung etwa.

Im Durchschnitt, so die Verbraucherzentrale NRW, machten Lebensmittel im Haushaltsbudget der Verbraucher tatsächlich bislang nur zwölf Prozent aus; im internationalen Vergleich ist das wenig. Aus Sicht der Verbraucherschützer ist es dennoch „Zeit für politisches Handeln“, für Geringverdiener seien die Preissteigerungen ein echtes Problem geworden. Der aktuelle Hartz-IV-Satz für Lebensmittel liege bei 5,20 Euro pro Tag – „das reicht nicht für eine gesunde Ernährung“.

Edeka: Wir werden weiterhin jede Forderung sehr genau prüfen

Die Verbraucherzentrale vermutet allerdings auch, dass nicht alle höheren Preise allein auf höheren Herstellungskosten basierten. Am 24. Mai hatte man die Preise für bestimmte Lebensmittel in verschiedenen Supermärkten verglichen und erstaunliche Preisspannen festgestellt: Für ein Kilo Tomaten etwa zahlte der Verbraucher zwischen 1,11 und 22,17 Euro. Womöglich, folgerten die Verbraucherschützer, nutzten einige Handelsunternehmen und Lebensmittelhersteller die „Gunst der Stunde“, um eigene Erträge zu verbessern.

Eine Sprecherin von Edeka Rhein-Ruhr bestätigte gegenüber der WAZ: „Aus unseren Gesprächen wissen wir, dass viele Preiserhöhungsforderungen nur teilweise auf echten Kostensteigerungen beruhen.“ Man werde daher „weiterhin jede Forderung sehr genau prüfen“. Gerade in Zeiten der steigenden Inflation sei es Edeka ein Anliegen, die privaten Haushalte zu entlasten.

Abwanderung zum Discounter?

Vor allem der Angriff Russlands auf die Ukraine habe den ohnehin bestehenden „Preisauftrieb bei Energie, Agrarrohstoffen, Betriebs- und Futtermitteln“ jedoch verstärkt. Das schlage sich teilweise in den Verkaufspreisen im Lebensmitteleinzelhandel nieder. Man sei aber zuversichtlich, dass unbürokratische Maßnahmen wie etwa der Ausweis bisher nicht genutzter Anbauflächen in den EU-Mitgliedsstaaten, die Situation „zur anstehenden Ernte entspannen werden“.

Eine Abwanderung von Kunden zum Lebensmittel-Discounter befürchte man nicht. „Durch unser vielfältiges Eigenmarkensortiment ist Edeka preislich jederzeit wettbewerbsfähig“, versichert die Sprecherin.

Tatsächlich, versichern Insider, sei es heute viel schwerer als vor Corona, die Situation zu analysieren. „Vor drei Jahren noch konnte man den Umsatz ziemlich gut prognostizieren, wusste man genau, welcher Tag schwach und welcher stark sein wird. Inzwischen erkennen wir keine klare Entwicklung mehr“, sagt ein Handelsmanager aus dem Revier. Der Markt wandele sich zudem auch, „weil globale Warenströme nicht mehr funktionieren“. Der Krieg in der Ukraine sei dabei nur „ein nächstes Level“. Wie sonst erkläre sich, dass vor vier Wochen plötzlich Biomilch deutlich günstiger einzukaufen gewesen sei als konventionelle Milch?

>>> INFO: Spar-Strategien

Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC befragte Verbraucher (im Januar) nach ihrer Reaktion auf gestiegene Preise.

58 Prozent der Befragten erklärten, sie würden mehr Sonderangebote kaufen; 39 Prozent wollten verstärkt zu günstigen Handelsmarken greifen; 27 Prozent öfter in der Discounter gehen.