Essen. Bei Thyssenkrupp wird vor der Hauptversammlung Kritik laut. Die Fondsgesellschaft Deka spricht von „katastrophalen Ergebnissen“ der Stahlsparte.
Vor der digitalen Hauptversammlung des Essener Stahl- und Industriegüterkonzerns Thyssenkrupp meldet sich die Investmentfirma Deka mit heftiger Kritik zu Wort. Unzufrieden äußert sich Deka-Experte Ingo Speich insbesondere zur Thyssenkrupp-Stahlsparte, die mit ihren großen Standorten an Rhein und Ruhr insbesondere für NRW von hoher Bedeutung ist. „Während die Wettbewerber vom gestiegenen Stahlpreis profitieren, ist die Stahlsparte von Thyssenkrupp nur noch ein Schatten ihrer selbst“, kritisiert Speich. Im Vergleich mit anderen Stahlherstellern liefere Thyssenkrupp Steel „katastrophale Ergebnisse“. In diesem Zusammenhang stellt der Deka-Manager auch die Frage, ob „Stahl ohne staatliche Hilfe überhaupt noch eine Chance bei Thyssenkrupp“ habe.
Dass das Ergebnis der Thyssenkrupp-Stahlsparte in den vergangenen Monaten vergleichsweise mager ausgefallen ist, hatte das Management schon vor einiger Zeit mit „längerfristigen Vertragsstrukturen“ des Unternehmens begründet. Damit würden sich die gestiegenen Rohstoff- und Stahlpreise erst zeitverzögert in der Thyssenkrupp-Bilanz bemerkbar machen. Negative Auswirkungen im vergangenen Geschäftsjahr hatten zudem zwischenzeitliche Produktionseinschränkungen aufgrund der Erneuerung des Hochofens 1 in Duisburg. Die Arbeiten liefen gerade, als die Nachfrage nach Stahl in die Höhe ging.
„Stahlsparte blickt auf ein verlorenes Jahr zurück“
„Die Stahlsparte blickt auf ein verlorenes Jahr zurück“, bemängelt Deka-Manager Speich mit Blick auf den Revierkonzern. „Thyssenkrupp hat es wieder einmal nicht geschafft, zum Wettbewerb aufzuschließen. In Europa hält Thyssenkrupp mit seiner Stahlsparte weiterhin die rote Laterne. Die einstige Stahl-Ikone ist nur noch Geschichte. Heute kämpft der einstige Stahlriese ums Überleben. Fehlender Mut, der sich in mangelnden Investitionen und fragwürdigen Management-Entscheidungen widerspiegelt, führt zum Ausbleiben des stahlpreisgetriebenen Booms, von dem der Rest der Branche profitieren konnte.“ Als Beleg führt Speich an, bei Thyssenkrupp liege der Ergebnisbeitrag aus einer Tonne Stahl bei weniger als einem Sechstel gegenüber dem Rivalen Arcelor.
„Der Stahlpreisboom wird nicht ewig anhalten“, gibt Speich zu bedenken und dringt auf rasche Veränderungen im Unternehmen. „Damit die Stahlsparte nicht dem Klimawandel zum Opfer fällt, muss Thyssenkrupp das Klimarisiko in den Griff bekommen.“ Mit Blick auf eine höhere Bepreisung von Kohlendioxid (CO2) und einen Kostenanstieg beim Rohstoff Kohle sei die Existenz des Stahlgeschäfts bedroht.
Thyssenkrupp-Vorstandschefin Martina Merz hat schon vor einigen Monaten eine Verselbstständigung der Stahlsparte mit insgesamt rund 26.000 Beschäftigten, davon etwa 22.000 in NRW, ins Gespräch gebracht. „Wir sind unverändert überzeugt davon, dass eine eigenständige Aufstellung dem Stahl die bestmöglichen Zukunftsaussichten eröffnet“, bekräftigt Merz in ihrer vorab veröffentlichten Rede zur virtuellen Hauptversammlung am Freitag (4. Februar). Doch wäre Thyssenkrupp Steel als eigenständiger Konzern stabil und finanziell stark genug? Die Thyssenkrupp-Chefin lässt durchblicken, dass dafür staatliche Unterstützung erforderlich ist. Die „grüne Transformation“ sei „die größte Herausforderung für den Stahl“ und „damit sie gelingen kann, sind staatliche Förderinstrumente unverzichtbar“.
„Thyssenkrupp hat zum wiederholten Mal Geld verbrannt“
Seit vielen Monaten schon läuft eine Sanierung beim Thyssenkrupp-Konzern, der weltweit rund 100.000 Menschen beschäftigt. Mehr als 12.000 Stellen sollen bis zum Geschäftsjahr 2023/24 wegfallen. Jahrelang hat das Essener Traditionsunternehmen von der Substanz gelebt. Das soll sich ändern, betont die Vorstandschefin. Das nächste Etappenziel sei „ein ausgeglichener Cashflow“ – einen positiven Wert konnte das Unternehmen zuletzt im Geschäftsjahr 2015/16 erreichen.
„Im Geschäftsjahr 2021 hat Thyssenkrupp zum wiederholten Mal Geld verbrannt“, bemängelt Speich, der bei der Sparkassen-Fondsgesellschaft Deka den Bereich Nachhaltigkeit & Corporate Governance leitet. „Der Cashflow von Minus 1,5 Milliarden Euro muss 2022 ins Positive gedreht werden“, fordert der Deka-Experte. Das Management dürfe sich nicht auf den Erlösen aus dem vor einigen Monaten abgeschlossenen milliardenschweren Verkauf der lukrativen Aufzug-Sparte ausruhen. „Ob sich der gesamte Konzern stabilisiert, bleibt abzuwarten“, sagt Speich.
Wasserstoff als „Gold für Energiegewinnung des 21. Jahrhunderts“
Viel Zuversicht verbreitet Thyssenkrupp-Chefin Merz für das Wasserstoffgeschäft. Bald schon könnte die Dortmunder Thyssenkrupp-Tochterfirma Uhde Chlorine Engineers (UCE) unter dem neuen Namen Nucera an die Börse gehen. „Eine Entscheidung über einen Börsengang könnte in der ersten Jahreshälfte 2022 fallen“, sagt Merz. „Das Interesse an unserem Geschäft ist enorm.“ Thyssenkrupp erwarte, dass sich der Bedarf an Wasserstoff enorm stark entwickeln und bis zum Jahr 2050 versiebenfachen wird, „ein gewaltiges Potenzial für die Wasserelektrolyse“, wie Merz betont. Thyssenkrupp will nach eigenem Bekunden eine Mehrheit am Geschäft behalten. Momentan ist der Essener Industriekonzern mit zwei Dritteln an Nucera beteiligt. Ein Drittel gehört dem italienischen Unternehmen De Nora.
„Die Thyssen-Krankheit ‚viel ankündigen, wenig umsetzen‘ muss in ein entschlossenes Handeln umgekehrt werden. Dies gilt insbesondere für das Zukunftsthema grüner Wasserstoff“, mahnt Deka-Manager Speich. „Mit dem geplanten Börsengang von Thyssenkrupp Nucera geht Thyssenkrupp in die richtige Richtung. So steigt die Chance, dass sich der grüne Wasserstoff als saubere Energiequelle entwickeln und im Markt etablieren kann. Thyssenkrupp könnte mit seiner Technologie entscheidenden Einfluss auf das Klima ausüben. Diese Chance darf der Konzern nicht verspielen.“ Der grüne Wasserstoff sei „für die Energiegewinnung das Gold des 21. Jahrhunderts“.