Duisburg. Erster Termin für den neuen NRW-Regierungschef Wüst: Überraschend ist er bei der Kundgebung der Stahl-Beschäftigten in Duisburg aufgetreten.
Bevor der neue NRW-Ministerpräsident eintrifft, erklingen Arbeiterlieder von der Bühne vor der Zentrale von Thyssenkrupp Steel in Duisburg-Bruckhausen. Ein kalter Wind fegt über die Rasenfläche an der Kaiser-Wilhelm-Straße, der Himmel über den Hochöfen ist strahlend blau. „Reih‘ dich ein in die Arbeitereinheitsfront“, tönt es zu Gitarrenakkorden – und viele der mehreren Tausend Beschäftigten haben Spruchbänder ausgerollt. „Respekt, Solidarität, Gerechtigkeit“ steht auf einem Transparent, auf einem anderen: „Stahl gehört zu Gelsenkirchen.“
Überraschend hat sich auch Hendrik Wüst kurzfristig angekündigt, der bisherige NRW-Verkehrsminister, der vom Landtag in dieser Woche als Ministerpräsident und Nachfolger von Armin Laschet gewählt worden ist. Es ist der erste offizielle Termin des CDU-Politikers als Chef der Landesregierung, was der nordrhein-westfälische IG Metall-Bezirksleiter Knut Giesler als „tolles Zeichen“ wertet.
Die Beschäftigten und die versammelten Arbeitnehmervertreter erhoffen sich von Wüst Unterstützung im Kampf um finanzielle Unterstützung durch die Bundesregierung, die aller Voraussicht nach vom SPD-Politiker Olaf Scholz als Kanzler angeführt wird.
„Der Markt wird es nicht richten“
Für die Stahlindustrie wichtige Ressorts könnten indes von Politikerinnen oder Politikern der Grünen und der FDP geführt werden. Und so betonten die Redner auf der Bühne neben den riesigen Werkshallen zum
einen die Chancen für den Klimaschutz, die sich durch einen Umbau der Produktion ergeben, zum anderen geben sie zu bedenken, wie wichtig eine staatliche Anschubfinanzierung für Konzerne wie Thyssenkrupp Steel sei. „Der Markt wird es nicht richten“, sagt IG Metall-Vorstand Jürgen Kerner. Wenn die Politik jetzt nicht mutig handle, „dann wird uns der Markt richten“.
Als Kerner spricht, plaudert der neue Ministerpräsident Wüst schon mit Giesler und Gesamtbetriebsratschef Tekin Nasikkol am Bühnenrand. Auch Arbeitsminister Karl-Josef Laumann ist gekommen, er ist ein Vertreter des Arbeitnehmerflügels der CDU. Wüst führt Laumann in seiner Rede als Beleg dafür an, dass die Beschäftigten aus der Stahlindustrie gewissermaßen mit am Tisch sitzen in seinem neuen Landeskabinett.
Im Publikum hört unter anderem Holger Schluck zu, 52 Jahre alt, Wohnort Bochum, Arbeitsplatz Gelsenkirchen bei der Thyssenkrupp-Tochter Electrical Steel. Wie viele Teilnehmer der Kundgebung trägt Schluck einen Mundschutz gegen Corona. Auf seinem steht der Slogan „Stahl ist Zukunft“. „Entweder uns gelingt der Umbau und wir sind Vorreiter oder der Stahl wird künftig im Ausland produziert“, sagt Schluck. Michael Laudert, ein Mitarbeiter von Thyssenkrupp in Essen, hebt hervor, dass es nicht nur um die Hochöfen geht, sondern um lange Wertschöpfungsketten, die an der Stahlproduktion in Duisburg hängen.
IG-Metall-Kundgebung bei Thyssenkrupp
Arcelor-Mittal, HKM und Opel – Teilnehmer von Standorten aus ganz NRW
An den Arbeitskleidungen und Spruchbändern lässt sich ablesen, dass die Beschäftigten, die zum „Aktionstag“ nach Duisburg gereist sind, von Dutzenden Standorten aus NRW kommen. Männer mit Helmen von HKM sind zu sehen, daneben flattern Transparente von Arcelor-Mittal aus Bottrop – und auch Beschäftigte des in Bochum verbliebenen Opel-Logistikstandorts zeigen Flagge.
Die Bühnenlautsprecher sind auf Festivallautstärke eingestellt. Tekin Nasikkol, der die Truppen der Stahlbeschäftigten in Duisburg anführt, wäre vermutlich auch ohne Mikrofon aus weiter Ferne zu hören
gewesen. Er ruft nicht, nein, er schreit seine Botschaften geradezu vom Podium. Die Stahlindustrie stehe vor einem „gigantischen Umbau“, es gehe um eine „Schicksalsfrage“. Als er sich direkt an den neuen Ministerpräsidenten Wüst wendet, senkt Nasikkol ein wenig die Lautstärke. Bis jetzt habe Wüst „alles richtig gemacht“, sagt Nasikkol. Er komme „genau zur richtigen Zeit“. Denn es sei die Politik, die jetzt handeln und die Konzepte zur Rettung der Stahlindustrie zur Realität machen müsse.
Nasikkol erinnert auch daran, dass Olaf Scholz drei Tage vor der Bundestagswahl bei Thyssenkrupp Steel in Duisburg gewesen sei. „Ich bin mir sicher, er hat verstanden, worum es hier geht“, urteilt Nasikkol, insofern rechne er mit Unterstützung des vermutlich künftigen Kanzlers. „Jetzt muss Olaf Scholz beweisen, dass er zu tausend Prozent zum Stahlstandort Deutschland steht.“
Neuer Ministerpräsident Wüst: „Meine Tür steht offen“
Wüst hört sich all dies am Bühnenrand an und er applaudiert den Arbeitnehmervertretern höflich, bevor er selbst ans Rednerpult tritt. Er wolle beides möglich machen, sagt er eingangs: Klimaschutz und Industrie. Er sei sich dessen bewusst, dass Hunderttausende Arbeitsplätze an energieintensiven Branchen wie der Stahl-,
Chemie-, Alu- oder Zementindustrie hängen. Stahl werde als Werkstoff auch in Zukunft gebraucht, „deshalb braucht der Stahl auch Zukunft in Deutschland“, sagt Wüst. Für die anstehende Transformation seien „gigantische Investitionen erforderlich“, daher müsse die neue Bundesregierung „ganz schnell handlungsfähig werden“.
Es sind keine exakten Zusagen, sondern es ist eher eine generelle Botschaft, die mit dem Auftritt von Wüst verbunden ist. Er selbst formuliert es so: „Meine Tür steht offen. Sie können sich auf meine Landesregierung verlassen.“
Die nordrhein-westfälische DGB-Vorsitzende Anja Weber kommentiert den Auftritt kurz darauf über den Kurznachrichtendienst Twitter. „Typisch NRW“, schreibt sie. „Gewerkschaften gestalten Zukunft und den ersten Arbeitstag des Ministerpräsidenten. Gefällt mir.“