Essen. Acht Konzerne und Institutionen aus dem Ruhrgebiet gründen ein Wasserstoff-Bündnis. Martina Merz, Rolf Buch und Ursula Gather dazu im Interview.
Acht führende Unternehmen und Institutionen aus der Region verbünden sich, um die Wasserstoff-Wirtschaft im Ruhrgebiet voranzubringen. Einen branchenübergreifenden Bebauungsplan für die Infrastruktur und die Produktion von Wasserstoff streben Eon, Evonik, RWE, Thyssenkrupp und Vonovia mit dem Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion, dem RWI und der Krupp-Stiftung an. Im Interview mit unserer Redaktion sprechen Thyssenkrupp-Vorstandschefin Martina Merz, die Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung, Ursula Gather, und Vonovia-Chef Rolf Buch über das ungewöhnliche Bündnis. „Wir hoffen, dass sich das Revier als Wasserstoff-Modellregion durchsetzen kann“, sagt Buch, der derzeit auch den Initiativkreis Ruhr führt. „Im Ruhrgebiet ist der CO2-Ausstoß pro Kopf derzeit nahezu doppelt so hoch wie im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt“, sagt Thyssenkrupp-Chefin Merz. „Das hat mit der starken Industrie in der Region zu tun und zeigt, welche Veränderungen notwendig sind. Es braucht hier einen Ruck.“ Hier lesen Sie das Interview im Wortlaut:
Es ist ungewöhnlich, dass sich so unterschiedliche Unternehmen und Institutionen beim Thema Wasserstoff zusammentun und gemeinsam an die Öffentlichkeit gehen. Wäre ein einzelner Akteur angesichts der Herausforderungen überfordert?
Gather: Wir stellen uns einer großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderung und wollen gemeinsam Verantwortung übernehmen. Unsere Überzeugung ist: Nur mit einem branchenübergreifenden
Schulterschluss von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft kann es gelingen, unser Land klimaneutral zu machen. Eine Initiative wie die unsere gibt es so noch nicht, und sicher kommen noch weitere Akteure hinzu. Es braucht bei diesem Thema vereinte Kräfte, und zwar gut moderiert.
Das große Ziel lautet Klimaneutralität. Praktisch immer, wenn es nicht allein mit grünem Strom funktioniert, kommt Wasserstoff ins Spiel, etwa bei der Dekarbonisierung der Stahl- und Chemieindustrie. „Ein Hype“ sei entstanden um den Wasserstoff, hat RWE-Chef Krebber unlängst gesagt. Könnte das Ruhrgebiet von diesem Hype besonders profitieren?
Merz: Im Ruhrgebiet ist der CO2-Ausstoß pro Kopf derzeit nahezu doppelt so hoch wie im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt. Das hat mit der starken Industrie in der Region zu tun und zeigt, welche Veränderungen notwendig sind. Es braucht hier einen Ruck. Es gibt hier aber auch ein enormes Potenzial. Wir wollen und wir können das Ruhrgebiet zu einem Pionier der Wasserstoff-Wirtschaft für ganz Deutschland, für Europa machen.
Ist das Ruhrgebiet noch sehr von der Kohle geprägt?
Buch: Vieles von dem, was wir heute im Ruhrgebiet sehen, baut auf der Kohle auf. Auf dieser Basis sind die Energie-, die Chemie- und die Stahlindustrie entstanden. Die Sektorenkopplung ist hier gelebte Praxis – alles ist dicht miteinander verbunden. Die Werkswohnungen wurden gleich mitgebaut und mit Fernwärme versorgt. Jetzt geht es darum, Wertschöpfung mit einem neuen Energieträger zu schaffen. Wenn nicht das Ruhrgebiet, welche Region sonst in Deutschland sollte Pilotregion für den künftigen Energieträger Wasserstoff werden? Der Wasserstoff ist die neue – saubere – Kohle.
Wir stehen unmittelbar vor einer Bundestagswahl: Gehen Sie gezielt jetzt mit dem Thema an die Öffentlichkeit?
Buch: Wasserstoff ist das Thema, wenn wir über Energie sprechen. Zu Recht. Denn jeder begreift doch, welche Chancen, aber auch Herausforderungen damit verbunden sind. Das ist unabhängig von Wahlterminen. Grüner Wasserstoff hat viel Potenzial als neuer Energieträger. Beim Klimaschutz kann er eine sehr wichtige
Rolle übernehmen. Wir sind überzeugt, dass die nächste Bundesregierung die Wasserstoff-Strategie für Deutschland konkretisieren und umsetzen wird. Wir glauben, dass das Ruhrgebiet auch im Wettbewerb mit anderen Regionen in Europa genau der richtige Ort ist, um dies zu tun. Wir hoffen, dass sich das Revier als Wasserstoff-Modellregion durchsetzen kann.
Spüren Sie Unterstützung durch die amtierende Bundesregierung?
Gather: Wir haben schon vor einer Weile den Kontakt mit verschiedenen Bundesministerien und dem Land NRW aufgenommen und eine Reihe von Gesprächen geführt. Dabei haben wir viel Unterstützung erfahren. Und es gibt positive Signale dafür, dass Bund und Land uns auch weiter in unserem Vorhaben unterstützen werden. Darauf bauen wir auf.
Was sind Ihre Erwartungen an die neue Bundesregierung?
Merz: Ein Beispiel: Für den Aufbau einer klimaneutralen Stahlindustrie braucht es enorme Mengen an Wasserstoff. Im Jahr 2050 benötigen wir bei Thyssenkrupp rund 720.000 Tonnen. Sie kennen den Oberhausener Gasometer. Wir brauchen ihn dann zweimal mit Wasserstoff gefüllt – und das pro Stunde. Wir wollen in erheblichem Maße investieren, etwa für Anlagen, die in Duisburg an die Stelle der bisherigen Hochöfen treten und eine klimaneutrale Stahlproduktion ermöglichen. Doch diese Investitionen können wir nur tätigen, wenn wir wissen, zu welchen Preisen wir wann, welche Mengen an Wasserstoff beziehen können. Dafür brauchen wir eine geeignete Infrastruktur, die im Übrigen nicht am Werkstor in Duisburg enden darf. Wir müssen von Beginn an alle relevanten Verbraucher um uns herum in die Planung einbeziehen, wenn wir nicht nur die Emissionen der Industrie senken, sondern insgesamt klimaneutral werden wollen.
Im Moment ist die Liste der Probleme beim Thema Wasserstoff noch lang: Es gibt zu wenig grünen Strom und grünen Wasserstoff, noch fehlt es an umgerüsteten Pipelines und Elektrolyseuren zur Wasserstoffproduktion. Kurzum: Pläne gibt es viele, aber noch recht wenig ist umgesetzt. Woran liegt das?
Merz: Die Herausforderungen sind komplex. An guten Initiativen und Projekten mangelt es nicht. Wir sind davon überzeugt, dass es einen moderierten Ansatz braucht, der die verschiedenen Branchen und Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ganzheitlich berücksichtigt, und deren Bedarfe und Potenziale zusammenführt. Mit unserer Initiative wollen wir daran mitwirken, einen branchenübergreifenden Bebauungsplan für die Wasserstoff-Wirtschaft zu entwickeln.
Ist die Relevanz der Veränderung der Stahlindustrie in den Köpfen der Kanzlerkandidaten angekommen?
Merz: Ich erkenne eine große Bereitschaft der Politik, die Stahlindustrie bei der Transformation zu begleiten. Alle Parteien haben die Bedeutung der Industrie für die Wirtschaftsregion Europa und Deutschland
verstanden. Aber in den entsprechenden Regelungen und Gesetzen in Europa spiegelt sich die Notwendigkeit für einen Erhalt bestehender Wertschöpfungsketten noch nicht in ausreichender Weise wider. Es gibt noch kein tragfähiges Konzept, das die Rahmenbedingungen für die Transformationen so beschreibt, dass wir wettbewerbsfähig klimaneutral werden können.
Wie soll diese Infrastruktur geschaffen werden?
Merz: Für die große Menge an Wasserstoff, die wir für unsere Wirtschaft, aber auch für private Haushalte benötigen, brauchen wir einen ganz großen Plan. Die Wirtschaft wird die Umstellung mit gewaltigen Investitionen bewältigen müssen. Aber für diese Investitionen braucht es Planungssicherheit. Deutschland wird Wasserstoff importieren müssen.
Gather: Dass die Politik für Infrastrukturen zuständig ist und die Wirtschaft die Anschlüsse an diese Infrastrukturen ebenso wie die Logistik bereitstellt, ist unbestritten. Gleichzeitig braucht es für einen ganzheitlichen Ansatz von Anfang an eine wissenschaftliche Begleitung, um die Umsetzungsforschung und die volkswirtschaftlichen Betrachtungen zu integrieren.
Wie kommt die Wohnungswirtschaft mit Wasserstoff in Berührung?
Buch: Sowohl bei der Elektrolyse als auch bei der Wasserstoff-Brennstoffzelle entsteht relativ viel Abwärme. In der Wohnungswirtschaft brauchen wir Wärme zum Heizen. Wollen wir bis 2045 klimaneutral sein, müssen wir innovative Wege gehen. Es ist nicht möglich, Häuser aus den 50er und 60er Jahren zu Niedrigenergiehäusern umzuwandeln. Neben den CO2-Einsparungen aus Sanierungen sind wir auf CO2-neutrale Wärme angewiesen. Würden wir bei Vonovia alle Flächen wie Parkplätze und Dächer mit Sonnenkollektoren und effizienten Wärmepumpen ausstatten, könnten wir unsere Quartiere beheizen. Aber wir müssen größer denken, der gesamte Gebäudesektor muss klimaneutral werden. Es ergibt keinen Sinn, als Unternehmen nur einen eigenen kleinen Wasserstoffkreislauf zu bauen. Entscheidend wäre, wenn wir den produzierten Wasserstoff auch in ein Wasserstoffnetz einspeisen könnten. Nur dann kann er dort verbraucht werden kann, wo er benötigt wird.
Welches Image hat Wasserstoff Ihrer Einschätzung zufolge in der Gesellschaft?
Gather: Die Frage nach gesellschaftlicher Akzeptanz müssen wir unbedingt mitdenken; sie muss gegebenenfalls soziologisch beforscht werden. Die Energiewende ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, deshalb muss die Gesellschaft auch neue Energieträger und Technologien annehmen. Ohne Wasserstoff funktioniert die grüne Transformation nicht.
Wie geht es jetzt weiter mit Ihrer Initiative? Bauen Sie eine Projektgesellschaft auf?
Merz: Das ist gut vorstellbar. Darüber sprechen wir auch insbesondere mit unseren Partnern aus der Wissenschaft und natürlich mit der Politik.
Sie haben für Thyssenkrupp angekündigt, im Jahr 2025 den ersten CO2-freien Stahl mit Hilfe der Hochofen-Nachfolgetechnologie herzustellen. Ist dieser Zeitplan noch zu halten?
Merz: Ja, keine Frage. Aber dazu brauchen wir möglichst schnelle Entscheidungen über die Rahmenbedingungen. Jetzt werden die Weichen für die kommenden Jahrzehnte gestellt.
Buch: Nicht nur für die Stahlindustrie, auch für andere Branchen gilt: Die Zeit drängt.
Schon im Oktober 2020 hat Ministerpräsident Laschet weitreichende Pläne zum Aufbau der Wasserstoff-Wirtschaft präsentiert. Laut einer vom NRW-Wirtschaftsministerium beauftragten Studie sind bis zu 130.000 neue Arbeitsplätze in diesem Industriezweig möglich. Ist Wasserstoff der Antrieb für einen Job-Motor?
Buch: Sicher und das ist natürlich sehr gut. Aber wir dürfen nicht vergessen: Sollte der Umbau der Unternehmen in Richtung Klimaneutralität nicht funktionieren, dann haben wir ein ganz anderes Problem.
Stellen Sie sich mal das Ruhrgebiet ohne Stahl vor! Das ist nicht möglich.
Merz: Wettbewerbsfähigkeit schafft Jobs. Und der klimaneutrale Umbau unserer Industrie dient der Wettbewerbsfähigkeit – aber nur, wenn wir nicht langsamer sind als alle anderen um uns herum.
Gather: Das Ziel ist eine De-Industrialisierung zu verhindern bei gleichzeitiger Reduktion der CO2 Emissionen. Das sichert vorhandene und schafft neue Arbeitsplätze. Es gilt eine leistungsfähige Industrieregion zu erhalten.
Sie regen einen Wasserstoff-Plan für Deutschland an. Ist das nicht zu klein gedacht? Wird ein europäischer Plan benötigt?
Merz: Eins nach dem anderen. Wasserstoff ist für uns natürlich ein europäisches, aber im Grunde ein globales Thema. Es gibt bereits einen intensiven Austausch. Davon können wir auch als Hersteller von Wasser-Elektrolyseuren profitieren. Auch in Australien, Afrika und Südamerika gibt es viel Aufbruchstimmung, wenn es um Wasserstoff geht. Oft ist zu spüren: Es gibt eine Chance, etwas Gutes auf unserem Planeten zu tun. Als Weltbürgerin motiviert mich das sehr.
Das sagt eine Thyssenkrupp-Chefin, die auch Greenpeace-Mitglied ist.
Merz: So ist es.
Das Ruhrgebiet steht in dem Ruf, als in Teilen strukturschwache Region besonders auf Subventionen angewiesen zu sein. Geht es Ihnen bei Ihrem Projekt um staatliche Finanzhilfen?
Gather: Im Vordergrund steht etwas anderes: Bei unserer Initiative geht nicht um ein Projekt für das Ruhrgebiet, sondern vielmehr um ein Projekt für Deutschland. Allerdings ist das Ruhrgebiet mit seiner einzigartigen dichten Industrie- und Wissenschaftslandschaft als Wasserstoff-Modellregion besonders gut geeignet, um Maßstäbe für eine Wasserstoffwirtschaft in industriellen Ballungsräumen zu setzen. Wir können hier besser als anderswo die notwendige Transformation erzielen. Diese Chance sollte die künftige Bundesregierung nutzen.
Merz: Es geht uns allen doch darum, möglichst schnell möglichst viele CO2-Emissionen zu reduzieren. Damit ist aus Bundesperspektive die Frage zu beantworten: Wo sollte zuerst in Wasserstoff investiert werden? Da kann die erste Antwort eigentlich nur sein: im Ruhrgebiet. Die gesamte Transformation wird natürlich wahnsinnig viel Geld kosten. Aber hier im Ruhrgebiet haben wir die Chance, durch ein kluges Zusammenspiel verschiedener Branchen, mit einer ganzheitlichen Planung möglichst wenig Investitionsmittel einsetzen zu müssen und den künftigen Energiebedarf durch Synergien niedriger zu halten, als wenn jeder nur seine eigene Transformation im Blick hat.
Die Kohle ist für das Ruhrgebiet auch identitätsstiftend. Kann das beim Wasserstoff ähnlich werden?
Buch: Das ganze Land hat in der Wirtschaftswunder-Zeit vom Ruhrgebiet profitiert. Das Revier war – basierend auf dem Energieträger Kohle – das Kraftzentrum Deutschlands. Jetzt gibt es die Chance, dass das Ruhrgebiet beim Wasserstoff wieder eine ähnliche Rolle übernimmt.