Berlin. Handwerkspräsident Wollseifer berichtet, wie seine Branche unter der Pandemie leidet.

Von dem Konferenzraum im Haus des Handwerks aus kann Hans Peter Wollseifer die Kräne zählen, die sich sich über Berlin drehen.

Der Präsident des Zentralverbands sieht die Betriebe auf dem Weg aus der Krise. Große Sorgen macht ihm aber der Mangel an Auszubildenden.

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Herr Wollseifer, die Corona-Zahlen sinken, immer mehr Menschen sind geimpft. Kann auch das Handwerk aufatmen?

Hans Peter Wollseifer: Zahlreiche mittelständische Handwerksbetriebe haben wirtschaftlich sehr gelitten. In vielen Gewerken - ob Messebauer, Lebensmittelhandwerker, Brauer, Friseure, Kosmetiker oder Gesundheitshandwerker - war es sehr schwierig. Das muss sich jetzt ändern. Wir haben die Situation, dass wir in vielen Bereichen wieder öffnen können, natürlich unter Beachtung der entsprechenden Abstands- und Hygienevorgaben.

“Wir glauben und hoffen, dass es keine Insolvenzwelle geben wird und die meisten Handwerksbetriebe weitermachen können“, sagt Wollseifer.
“Wir glauben und hoffen, dass es keine Insolvenzwelle geben wird und die meisten Handwerksbetriebe weitermachen können“, sagt Wollseifer. © dpa | Oliver Berg

Fürchten Sie eine Insolvenzwelle?

Wollseifer: Die Pandemie hat Umsatzverluste für fast jeden zweiten Betrieb gebracht, in einigen Gewerken waren sogar zwei Drittel von Rückgängen und Umsatzausfällen betroffen. Wie stark das die Betriebe ins Mark getroffen hat, wird sich erst in den kommenden Monaten zeigen. Das ist wie bei einem Hochwasser: Da sieht man den richtigen Schaden auch erst, wenn sich das Wasser zurückgezogen hat. Wir glauben und hoffen, dass es keine Insolvenzwelle geben wird und die meisten Handwerksbetriebe weitermachen können. Aber es wäre unrealistisch zu glauben, dass alle überleben. Das liegt auch daran, dass es ab November mit der staatlichen Unterstützung nicht mehr so gut geklappt hat. Die November-Hilfen sind in manchen Betrieben erst im März angekommen.

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    Halten Sie ein neues Konjunkturprogramm für erforderlich?

    Wollseifer: Es muss auf jeden Fall weiter Unterstützung geben. Die Verlängerung sowohl der Sonderregelungen zum Kurzarbeitergeld als auch der Überbrückungshilfe III bis zum 30. September sind richtig und unverzichtbar. Ob diese Frist ausreicht, wird sich zeigen. Denn in vielen Gewerken bleibt die wirtschaftliche Perspektive ungewiss - zumal es weiter Einschränkungen und das Geschäft mindernde Hygiene- und Abstandsvorgaben geben wird. Auch da brauchen wir auf dem Weg zur neuen Normalität weitere Lockerungen, für die die Bundesländer zuständig sind. Nach wie vor unverständlich für uns ist, dass sich das Bundesfinanzministerium bislang gegenüber dem einfachsten Hilfsinstrument sperrt: Das wäre die Verrechnung aktueller Verluste mit steuerlichen Gewinnen aus den Vorjahren. Diese Möglichkeit sollte die Regierung zeitlich deutlich stärker ausweiten.

    Wann bildet das Handwerk wieder mehr aus?

    Wollseifer: Unsere Handwerksbetriebe haben schon immer über den eigenen Bedarf hinaus ausgebildet. Das hat sich in der Pandemie nicht geändert. Ausbildungsplätze gibt es genug, aber dafür genügend Auszubildende zu bekommen, das ist aktuell das Problem, weil vieles von dem wegfällt, wo sich Betriebe und Jugendliche sonst kennenlernen. Aktuell haben wir in den 130 Ausbildungsberufen im Handwerk noch rund 32 000 offene Ausbildungsstellen. Bei den Neuverträgen hatten wir Ende Mai im Vergleich zum Vorjahr zwar ein Plus von neun Prozent, aber verglichen mit dem Mai 2019 - dem letzten vor der Pandemie - ein Minus von zehn Prozent. Da ist dringender Handlungsbedarf.

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    Sie könnten mehr zahlen.

    Wollseifer: Damit hängt das nicht zusammen. Die Ausbildung im Handwerk wird anständig bezahlt - teilweise besser als in der Industrie oder bei den Banken. In einigen Bauberufen bekommen die jungen Leute im dritten Ausbildungsjahr eine Vergütung von bis zu 1400 Euro. Im Übrigen: Wenn man eine Ausbildung im Handwerk hat und gut in seinem Job ist, dann muss man sich in seinem Leben keine Sorgen mehr um den Arbeitsplatz machen. Aber die Pandemie hat viele verunsichert. Wir müssen hart daran arbeiten, wieder mehr Jugendliche in Kontakt mit den Handwerksbetrieben zu bringen. Der vom ZDH angeregte und gemeinsam mit den Partnern der Allianz für Aus- und Weiterbildung Anfang Juni gestartete „Sommer der Berufsbildung“ setzt genau hier an: Mit Aktionstagen, Informationen und vielem mehr sollen Jugendliche von den tollen Berufs- und Karrieremöglichkeiten einer dualen Ausbildung erfahren und mit Ausbildungsbetrieben zusammengebracht werden.

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      Ist das mehr als Folklore?

      Wollseifer: Wir müssen alles dafür tun, damit wir einen Lehrlingsmangel wie im vergangen Jahr nicht noch einmal erleben. Es darf keine Generation Corona geben. Wir wollen allen ein Angebot machen, die ausbildungswillig und ausbildungsfähig sind. Dazu müssen wir die sehr guten Karriere- und Berufsperspektiven im Handwerk noch besser bekannt machen. In diesem Sommer der Berufsbildung bieten wir beispielsweise Sommercamps an, in denen sich Betriebe den Jugendlichen vorstellen können. Bei allem Einsatz haben wir es aber auch mit einem strukturellen Problem zu tun.

      Das wäre?

      Wollseifer: In Deutschland liegt der Fokus seit Jahrzehnten sehr stark auf der akademischen Bildung. Der Bund pumpt Milliarden in den Hochschulsektor, zum Beispiel durch den Hochschulpakt, obwohl das eigentlich in Länderzuständigkeit liegt. Vergleichbare Geldflüsse gibt es für die berufliche Bildung nicht. Im Handwerk haben wir rund 600 Bildungsstätten, von denen viele modernisiert und digital ausgestattet werden müssen. Es wäre ein Zeichen der Wertschätzung, wenn sich der Staat stärker für die berufliche Bildung engagieren und die Finanzierung nicht überwiegend der Wirtschaft überlassen würde. Wir müssen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Akademisierung und beruflicher Qualifizierung schaffen. Das ist aus dem Lot geraten. Mit brisanten Folgen: Wir brauchen deutlich mehr beruflich qualifizierte Fachkräfte als bisher, um Energie- und Mobilitätswende, Wohnungsbau und Klimaschutz überhaupt umsetzen zu können. Ladesäulen und Photovoltaikanlagen installieren sich schließlich nicht von selbst.

      Wie groß ist der Frauenanteil in den Handwerksbetrieben?

      Wollseifer: Knapp jeder fünfte Auszubildende ist eine Frau – da ist Luft nach oben. Wir verwenden große Anstrengungen darauf, diesen Anteil weiter zu erhöhen. Es gibt große Unterschiede beim Frauenanteil je nach Gewerk. Es gibt Berufe, in denen junge Frauen mittlerweile dominieren: in den Gesundheitshandwerken, im Konditoren- oder Raumausstatterhandwerk. Das müssen wir in anderen Bereichen auch noch stärker hinbekommen.

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      Und zwar wie?

      Wollseifer: In unserer Imagekampagne zeigen wir starke junge Frauen, um Mädchen zu motivieren, es ihnen nachzutun. Auf Bussen und in Filmen werben wir mit erfolgreichen und motivierten Brauerinnen, Elektronikerinnen, Tischlerinnen und Schornsteinfegerinnen. Und wir legen ein Projekt auf: „Mädchen willkommen im Handwerk.“ Betriebe sollen sich dafür qualifizieren, indem sie besonders mädchenaffin sind und ihren Berufsalltag so ausgestalten, dass Mädchen eine Ausbildung gleichermaßen gut wie Jungen meistern können. Geplant ist, dass diese Betriebe ein Siegel erhalten und besonders hervorgehoben werden sollen. Das Projekt soll im Herbst beginnen.

      Ob Handwerkerin oder Handwerker - wie lange müssen die Kunden im zweiten Sommer der Pandemie auf einen Termin warten?

      Wollseifer: Im Bau und Ausbau sind es durchschnittlich 8,8 Wochen.

      Ausbildungsplätze gebe es genug, „aber dafür genügend Auszubildende zu bekommen, das ist aktuell das Problem“, sagt Wollseifer.
      Ausbildungsplätze gebe es genug, „aber dafür genügend Auszubildende zu bekommen, das ist aktuell das Problem“, sagt Wollseifer. © dpa | Sebastian Kahnert

      Warum so lange?

      Wollseifer: Ein Grund ist die Unterbrechung der Lieferketten in der Pandemie. Die Folgen spüren wir jetzt: Baumaterialen sind knapp und die Materialpreise haben sich exorbitant erhöht. Ich bin seit 45 Jahren im Handwerk, aber eine solche Situation, in der gleichzeitig so viele Roh- und Baustoffe und weitere Materialen fehlen, das habe ich noch nie erlebt, nicht einmal in der Ölkrise. Es fehlt an Holz, Metall, Kunststoff, Chips - praktisch an allem, was man für den Hausbau braucht. Ich habe das Thema auch schon der Bundeskanzlerin nähergebracht. Wenn wir das nicht schnell in den Griff bekommen, brauchen wir an Wohnbauprogramme, Klimaschutz an Gebäuden und Breitbandausbau keine Gedanken mehr zu verschwenden.

      Und das liegt allein an der Pandemie?

      Wollseifer: Nicht ausschließlich, das ist komplexer und hat teilweise auch andere Ursachen. Beim Holz etwa spielt auch eine Rolle, dass die USA und China einen wahnsinnigen Bedarf haben und die europäischen Märkte leerkaufen. Hinzu kommen massive Schäden durch den Borkenkäfer, kalte Winter oder Brände wegen Dürre. Aber bei den meisten anderen Produkten und Materialien sind es Corona-Folgen: Da wurden angesichts der Epidemie die Produktionskapazitäten global heruntergefahren und können nun nicht so rasch wieder reaktiviert werden, wie sich die Wirtschaft global erholt.

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        Was erwarten Sie von der Regierung? Dass sie die Ausfuhr beschränkt?

        Wollseifer: Zunächst müssen bei der öffentlichen Auftragsvergabe auch für laufende Verträge Preisanpassungen ermöglicht werden. Die Förderprogramme für Neubau und Sanierungen müssen entsprechend der Baupreiserhöhungen verstärkt werden. Und die aktuellen Preis- und Beschaffungsprobleme müssen bei der Überbrückungshilfe als nachlaufende Corona-Folgen mit berücksichtigt werden.

        In gut drei Monaten ist Bundestagswahl - und die Grünen greifen nach dem Kanzleramt. Könnte das Handwerk mit Annalena Baerbock als Nachfolgerin von Angela Merkel leben?

        Wollseifer: Wir können mit jeder Kanzlerin oder jedem Kanzler leben, die oder der Handwerksbetrieben eine Zukunfts- und Wachstumsperspektive bietet. Dazu haben wir Wahlprüfsteine aufgestellt.

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        Was ist die wichtigste Aufgabe der neuen Bundesregierung?

        Wollseifer: In der Nach-Pandemie-Zeit brauchen unsere Betriebe Luft zum Atmen. Es kann nicht sein, dass die Corona-Lasten am Mittelstand hängenbleiben. Die müssen gerecht verteilt werden. Auf keinen Fall darf es Steuererhöhungen für unsere Betriebe geben, von denen vielen das Wasser ohnehin schon bis zum Hals steht. Die jetzt noch weiter zu belasten, wäre zu kurz gedacht. Wenn sie wieder gute Umsätze machen, sprudeln auch die Steuereinnahmen - und der Staat kann seine Schulden abbauen. Nach der Finanzkrise hat das schon einmal geklappt.

        Fordern Sie Steuersenkungen?

        Wollseifer: Ja, der Solidaritätszuschlag sollte komplett wegfallen. Außerdem sollte die Besteuerung von Personengesellschaften auf das Niveau von Kapitalgesellschaften gesenkt werden. Das würde den Handwerksbetrieben enorm helfen.