Essen. Als Werkstoffhändler richtet sich Thyssenkrupp auch an Handwerker und Bastler. Martin Stillger, Chef der Sparte Materials Services, im Interview.
Thyssenkrupp hat ehrgeizige Pläne für die Werkstoffsparte Materials Services mit 15.800 Mitarbeitern. „Wir sind schon längst nicht mehr nur ein Werkstoffhändler“, sagt Martin Stillger, der Vorstandssprecher von Thyssenkrupp Materials Services, im Gespräch mit unserer Redaktion. Sein Unternehmen wolle zunehmend komplette Lieferketten für die Materialversorgung von Kunden organisieren. Auch auf Plattformen wie Amazon und Ebay ist Thyssenkrupp aktiv, um Bastler, Hand- und Heimwerker zu erreichen. „Dass wir im Endkundengeschäft tätig sind, ist in der von Industriekunden geprägten Thyssenkrupp-Gruppe sicherlich keine Selbstverständlichkeit“, sagt Stillger. Hier lesen Sie das Interview im Wortlaut:
Die Werkstoffsparte Materials Services gehört zu den wenigen Bereichen von Thyssenkrupp, die nicht von Sanierungs-, Umbau- oder Verkaufsplänen geprägt sind. Wie fühlen Sie sich in der Rolle des Hoffnungsträgers?
Stillger: Wir sind schon lange ein wichtiger und umsatzstarker Teil von Thyssenkrupp. Als größter Werkstoffhändler und Dienstleister der westlichen Welt müssen wir uns nicht verstecken. In den vergangenen Jahren haben wir bewiesen, dass wir verlässlich einen Ergebnisbeitrag im Konzern liefern können. Darauf wollen wir uns aber nicht ausruhen, sondern verbessern kontinuierlich unsere Leistungsfähigkeit.
Die Pläne für die Stahlwerke von Thyssenkrupp haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder geändert. Macht das auch Ihrer Sparte zu schaffen?
Stillger: Wir sind werksunabhängig. Weniger als zehn Prozent der Werkstoffe in unserem Angebot kommen aus den Produktionsanlagen von Thyssenkrupp. Wir sind also nicht der Vertriebsarm von Thyssenkrupp Steel. Im Übrigen beschränken wir uns nicht auf Stahl und Edelstahl, sondern handeln mit ganz unterschiedlichen
Werkstoffen – Aluminium, Titan und Kunststoffen zum Beispiel. Wir haben rund 150.000 Produkte im Programm, die wir von mehr als 4000 Lieferanten in aller Welt beziehen.
Wie kommen Sie durch die Corona-Krise?
Stillger: Auch wir haben die Folgen des weltweiten Einbruchs der Nachfrage aufgrund der Pandemie zu spüren bekommen. Unser Handelsvolumen ist im letzten Geschäftsjahr um etwa zehn Prozent zurückgegangen. Wir reden hier aber von konjunkturellen Themen, nicht von strukturellen Problemen. Der Trend in den bisherigen Monaten des aktuellen Geschäftsjahres ist positiv. Daher bin ich, was die Zukunft angeht, optimistisch.
Viele Unternehmen reagieren mit Kurzarbeit auf die Corona-Krise, so auch Thyssenkrupp Materials Services?
Stillger: Um den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu begegnen, haben wir mit Kurzfristmaßnahmen gegengesteuert. Dazu gehören Kurzarbeit, ein Einstellungsstopp oder die Reduzierung von Leiharbeit. Damit haben wir in der Pandemie Arbeitsplätze gesichert.
Haben Sie auch Arbeitsplätze abgebaut?
Stillger: Unabhängig von Corona passen wir unser Standortnetzwerk kontinuierlich an und führen auch strukturelle Veränderungen durch, wenn sich uns neue Markt- und Kundenanforderungen stellen. Im vergangenen Geschäftsjahr hat das zu einem Rückgang von etwa acht Prozent beim Personal geführt. Heute arbeiten rund 15.800 Kollegen bei Materials Services. Wir sind und bleiben aber ein wichtiger Arbeitgeber – gerade in Nordrhein-Westfalen mit unseren großen Standorten in Essen, Dortmund, Duisburg und Krefeld beispielsweise. Etwa 20 Prozent aller unserer Arbeitsplätze weltweit befinden sich in NRW.
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Die IG Metall spielt bei Thyssenkrupp eine wichtige Rolle. Für die Sparte Materials Services ist aber die Gewerkschaft Verdi zuständig. Die Tarife im Groß- und Außenhandel sind niedriger als die Metalltarife. Die Montan-Mitbestimmung gibt es in ihrer Branche nicht. Passt Ihre Sparte nicht so recht in die Thyssenkrupp-Welt?
Stillger: Wir stehen natürlich für die Werte von Thyssenkrupp. Dazu gehört ein guter und fairer Umgang mit unseren Beschäftigten. Wenn es Herausforderungen gibt, suchen wir gemeinsam nach Lösungen. Werden Einschnitte beim Personal notwendig, versuchen wir betriebsbedingte Kündigungen möglichst zu vermeiden. Wir wollen alle, dass sich unser Unternehmen gut weiterentwickelt und erfolgreich ist.
In der Vergangenheit gab es Gerüchte, Sie könnten mit dem Duisburger Konkurrenten KlöCo zusammengehen, der mittlerweile vom früheren Thyssenkrupp-Vorstandschef Guido Kerkhoff gesteuert wird. Ist da etwas dran?
Stillger: Ein Zusammengehen mit KlöCo ist für uns kein Thema. Wir konzentrieren uns darauf, unser eigenes Geschäft nach vorne zu bringen.
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Können Sie sich andernorts Zukäufe vorstellen?
Stillger: Ich sehe zunächst einmal großes Potenzial dafür, dass wir uns aus eigener Kraft weiterentwickeln können. Wenn wir uns an der einen oder anderen Stelle verstärken können, werden wir uns das von Fall zu Fall ansehen. Das gilt insbesondere für den nordamerikanischen Markt, auf dem wir schon heute eine starke Position haben, die wir weiter ausbauen wollen. Das kann aber auch für digitale Anwendungen gelten. Da schauen wir uns ständig um, wie wir unsere Dienstleistungen weiter verbessern können.
Wo sehen Sie die größten Potenziale für Ihr Geschäft?
Stillger: Wachstum streben wir insbesondere mit Lieferkettenlösungen und Dienstleistungen an, mit denen unsere Kunden ihre Werkstoffversorgung optimieren und damit erheblich Kosten senken können. Dafür integrieren wir uns mit digitalen Lösungen in die Wertschöpfungsketten unserer Kunden. Wir sind schon längst nicht mehr nur ein Werkstoffhändler. Letztlich geht es darum, komplette Lieferketten für die Materialversorgung zu organisieren und zu managen.
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Sprich: Sie kommen bei Outsourcing ins Spiel?
Stillger: Wir liefern nicht nur Material, wir nehmen damit unseren Kunden die Arbeitsprozesse ab, die nicht zu ihren Kernbereichen gehören. Das nennen wir „Materials as a Service“. Diese Strategie verspricht höhere Margen als der reine Handel und verstärkt zugleich die Kundenbindung. Das wiederum verringert unsere Abhängigkeit von der Konjunktur und von Materialpreisschwankungen. Wir wandeln uns als Unternehmen sehr stark und entwickeln unser Geschäftsmodell signifikant weiter.
Kann es sein, dass Sie irgendwann mehr Kunststoff als Stahl verkaufen?
Stillger: Kunststoffe sind ein wichtiger Teil unserer Produktpalette. Ein Beispiel: Als alle Welt wegen Corona nach Schutzscheiben gesucht hat, konnten wir von dieser Sonderkonjunktur profitieren. Dabei haben wir gezielt Gesamtpakete angeboten – von der zugeschnittenen Schutzscheibe über die Montage bis hin zum Reinigungsmittel und Pflegeset gegen Kratzer. Was wir an Schutzscheiben bisher ausgeliefert haben, entspricht der Fläche von mehreren hundert Fußballfeldern. Den Großteil unseres Umsatzes weltweit erzielen wir allerdings mit Stahl und anderen Metallen.
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Welche Rolle spielt die Digitalisierung in Ihrem Geschäft?
Stillger: Die Digitalisierung unseres Geschäfts ist für uns eine Selbstverständlichkeit, aber niemals Selbstzweck. Sie muss Wert schaffen, für uns und für unsere Kunden. Bei uns kommen jährlich rund 14 Millionen Auftragspositionen zusammen, die wir möglichst effizient abarbeiten müssen. Dafür haben wir digital aufgerüstet und arbeiten ständig weiter an digitalen Lösungen. Schon heute vereinfachen Apps die Zusammenarbeit mit Zulieferern, Software vernetzt Produktionsmaschinen aller Generationen, Bestellprozesse werden automatisiert. Mit künstlicher Intelligenz analysieren wir die Warenströme, um Vorhersagen für den Werkstoffbedarf zu ermitteln.
Können Sie von Unternehmen wie Amazon oder Ebay lernen?
Stillger: Wir lernen nicht nur von Amazon und Ebay, sondern sind auch auf diesen Plattformen aktiv. Außerdem richten wir uns mit unserer Online-Plattform „Materials4me“ direkt an Handwerker, Heimwerker und Bastler. Produkte wie Bleche, Armaturen oder Material für den Gartenzaun lassen wir über Paket- oder Expressdienste ausliefern. Dass wir im Endkundengeschäft tätig sind, ist in der von Industriekunden geprägten Thyssenkrupp-Gruppe sicherlich keine Selbstverständlichkeit. Das ist ein spannendes Geschäft, das sich gut entwickelt.