Essen/Düsseldorf/Marl. Um Wasserstoff ist „ein Hype“ entstanden, sagt der künftige RWE-Chef Krebber. Evonik, Eon, Thyssenkrupp und OGE – viele Konzerne haben Pläne.
Es ist ein heller Tag im Oktober. Armin Laschet hat eine Gruppe von Chefs großer Unternehmen aus NRW um sich geschart. Mitten in der Corona-Krise nimmt sich der Ministerpräsident viel Zeit für das Treffen im gläsernen Stadttor hoch über den Dächern von Düsseldorf. „Spitzengespräch Wasserstoff“ nennt es die Staatskanzlei. Nach den Beratungen spricht Laschet von einem „wichtigen Tag in der Industriegeschichte Nordrhein-Westfalens“ und einer „bemerkenswerten Initiative“ führender Unternehmen des Landes.
Eine blaue Tafel mit der Aufschrift „Wasserstoffland Nordrhein-Westfalen“ liegt bereit. Dabei ragt H2 groß im Landesnamen heraus – das Kürzel für Wasserstoff. In einem Strategiepapier, das den Titel „Aufbruch in die Zukunft“ trägt, tauchen Projekte mit einem Investitionsvolumen von rund vier Milliarden Euro auf. Die Vorhaben reichen von der Erzeugung über den Transport bis zur Speicherung und Anwendung von Wasserstoff in NRW. Auszüge tragen Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz, Evonik-Lenker Christian Kullmann und Arbeitgeberpräsident Arndt G. Kirchhoff vor. Im tristen Corona-Alltag ist ein Hauch von Goldgräberstimmung im Düsseldorfer Stadttor zu spüren.
Designierter RWE-Chef Krebber spricht von Hype
Wenige Wochen später analysiert der designierte RWE-Chef Markus Krebber in einer Telefonkonferenz mit Journalisten die Lage. „Es ist ein Hype entstanden“, sagt Krebber. Wasserstoff sei „längst nicht mehr ein Thema nur für Fachleute“. Denn es sei klar, dass eine Dekarbonisierung der Industrie und von Luftfahrt oder Schwerlastverkehr ohne Wasserstoff nicht funktionieren werde. RWE wolle dabei eine wichtige Rolle spielen, trägt Krebber vor. Schon jetzt seien es 250 Beschäftigte im Konzern, die an 30 Projekten in Deutschland, den Niederlanden und in Großbritannien arbeiten.
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Das Thema Wasserstoff passt ins Programm des Essener Energiekonzerns, der jahrzehntelang von Kohle und Kernkraft geprägt worden ist. Krebber, der Mitte nächsten Jahres den bisherigen Konzernchef Rolf Martin Schmitz ablösen soll, will ohnehin unter Beweis stellen, dass RWE kontinuierlich das Geschäft mit erneuerbaren Energien ausweitet. Spätestens im Jahr 2040 soll das Unternehmen klimaneutral sein.
Wie viele andere Konzerne setzt auch RWE in Sachen Wasserstoff gezielt auf Partnerschaften – etwa mit Branchengrößen wie wie BP, Evonik, Siemens, Thyssenkrupp und Gasunie. „Würden diese Projekte alle realisiert, würden hierdurch Investitionen in Höhe von über sechs Milliarden Euro ausgelöst“, berichtet Krebber. „Vieles ist noch im frühen Stadium, manches wird sich nicht so wie heute gedacht umsetzen lassen. Doch erkennbar wird, welches enorme Potenzial in Wasserstoff steckt.“
„Wasserstoff-Landkarte“ für das Ruhrgebiet
Bestrebungen, ein Wasserstoff-Netzwerk an Rhein und Ruhr aufzubauen, gibt es auch Ende September auf dem Essener Zollverein-Areal. Ein noch recht junges Firmenbündnis namens „Digital Campus Zollverein“ hat Gäste wie den Wirtschaftsförderer Rasmus Beck in ein zentral gelegenes Gebäude auf dem Welterbe-Gelände versammelt. Im Laufe seines Vortrags projiziert Beck eine Landkarte des Ruhrgebiets an die Wand.
Nahezu über die gesamte Fläche verteilt sind Punkte zu sehen, die den Namen von Unternehmen, Universitäten und Forschungsinstituten zuzuordnen sind. Energie- und Chemiekonzerne tauchen auf, daneben die Fraunhofer-Gesellschaft und die TU Dortmund. Es ist ein dichtes Gebilde, das Rasmus Beck auf seiner „Wasserstoff-Landkarte“ darstellt.
Von „idealen Bedingungen“ spricht gar Andre Boschem, der Geschäftsführer der Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft (EWG). Wie viel Expertise es in der Region gebe, zeige schon die Besetzung des Wasserstoffrats, der die Bundesregierung in den kommenden Jahren beraten soll. Mit Katherina Reiche hat eine Eon-Managerin den Vorsitz übernommen, Thyssenkrupp ist mit Stahlvorstand Arnd Köfler vertreten, auch der Chef des Essener Gasnetzbetreibers Open Grid Europe (OGE), Jörg Bergmann, ist mit von der Partie.
Bundesregierung will neun Milliarden Euro für Wasserstoff bereitstellen
Bei der Veranstaltung auf dem Zollverein-Areal betont Bergmann aber auch, wie viel noch zu tun ist, um die weitreichenden Pläne rund um die Wasserstoff-Wirtschaft zu verwirklichen. Technisch ist vieles möglich, doch es hapert bislang an Geschäftsmodellen, die den Unternehmen planbar Einnahmen bescheren. Klar ist: Neun Milliarden Euro will die Bundesregierung bereitstellen, um die Wasserstoff-Wirtschaft in Gang zu bringen. So soll das von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ausgegebene Ziel erreicht werden, Deutschland in Sachen Wasserstoff-Technologien zur Nummer eins in der Welt zu machen.
Bedarf an Wasserstoff gibt es bei Stahlherstellern wie Thyssenkrupp und Chemiekonzernen wie Evonik. Auch Kraftwerke, schwere Lkw und Lokomotiven könnten künftig mit Wasserstoff betrieben werden. Doch mit Blick auf die Produktion und Speicherung des Energieträgers sind viele Fragen offen. So sind für die Herstellung von klimaneutralem Wasserstoff in Elektrolyseuren unter anderem riesige Mengen Solar- und Windstrom erforderlich.
„Wir müssen alles auf den Kopf stellen“
Bislang mangelt es jedoch an der Bezahlbarkeit von grünem Wasserstoff, wie der Manager Arnt Baer vom Energieversorger Gelsenwasser feststellt. Generell stehe viel auf dem Spiel, mahnt Holger Lösch vom Industrieverband BDI. Es gehe um eine „Überlebensfrage“ für den Standort Deutschland, sagt Lösch, der bei der Veranstaltung in Essen online zugeschaltet ist. Wenn die Wirtschaft im Jahr 2050 klimaneutral sein solle und damit auch kein Öl oder Gas mehr verbrannt werde dürfe, habe dies enorme Konsequenzen: „Wir müssen alles auf den Kopf stellen, was uns in den letzten 150 Jahren erfolgreich gemacht hat.“
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Es ist ein komplexer Umbau mit vielen unterschiedlichen Vorhaben, so auch in Marl an einem der größten Chemiestandorte bundesweit. Ende September reist Forschungsministerin Anja Karliczek (CDU) an, um symbolisch einen grünen Knopf zum Start einer Versuchsanlage zu drücken, bei der auch Wasserstoff eine wichtige Rolle spielt. Evonik und Siemens Energy ahmen nach, was in der Natur wie selbstverständlich geschieht: Sonnenlicht, Kohlendioxid (CO2) und Wasser genügen – und schon läuft in Pflanzen die Fotosynthese.
Mit einem Projekt namens Rheticus wollen die Unternehmen unter Beweis stellen, dass auch eine künstliche Fotosynthese möglich ist. Durch eine Kombination aus chemischen und biologischen Schritten sollen aus CO2, Wasser und erneuerbarem Strom Alkohole wie Butanol oder Hexanol entstehen – wertvolle Chemikalien, die für Kunststoffe oder Nahrungsergänzungsmittel benötigt werden.
Evonik kooperiert in Marl mit Siemens Energy
Auch die Chemieindustrie steht unter dem Druck, ihre Produktion klimafreundlich umzubauen. Das Projekt Rheticus ist aus Sicht der Unternehmen ein gutes Beispiel dafür, dass die Industrie beim Umweltschutz nicht ein Problem, sondern ein Problemlöser sein kann. Bei ihrem Besuch im nördlichen Ruhrgebiet verweist Karliczek darauf, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Messlatte beim Klimaschutz unlängst höher gelegt hat. Sie will das Ziel der bis zum Jahr 2030 angestrebten Emissionsreduktion auf mindestens 55 Prozent erhöhen. Bislang waren es 40 Prozent im Vergleich zu 1990. „Ehrgeizig“ nennt Karliczek die Pläne, gleichzeitig bestehe für Deutschlands Industrie aber auch die Chance, mit grüner Technologie neue Exportschlager zu entwickeln.
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Das Projekt Rheticus ist ein Beispiel für Zusammenarbeit von Unternehmen über Branchengrenzen hinweg. „Power-to-X-Konzepte“ werden in der Industrie Vorhaben genannt, in denen Strom – möglichst aus erneuerbaren Quellen – für die Herstellung von Chemikalien, Gasen und Treibstoffen genutzt wird. Evonik-Vorstand Harald Schwager betont, die neue Anlage könne zweierlei erreichen: Sie ermögliche, das Klimagas CO2 industriell zu nutzen und könne darüber hinaus zur Speicherung von Energie aus erneuerbaren Quellen beitragen. In dem Elektrolyseur, den Siemens Energy für das Rheticus-Projekt gebaut hat, entstehen zunächst Kohlenmonoxid (CO) und Wasserstoff. Mikroorganismen in dem Bioreaktor, der von Evonik entwickelt wurde, erzeugen daraus anschließend Chemikalien.
„Die Transformation ist sehr teuer“
Mit dem Chemiepark Marl sowie den Raffinerien in Gelsenkirchen und diversen Stahlwerken stellt sich gleich an mehreren Standorten im Ruhrgebiet die Frage, wie der Einsatz von Wasserstoff zum Klimaschutz beitragen kann. In dem Projektpapier, das Ministerpräsident Laschet vorgestellt hat, nimmt Deutschlands größter Stahlstandort Duisburg eine herausgehobene Rolle ein. Duisburg biete sich „für den Transformationsprozess in besonderem Maße an, da die integrierte Hütte – eine der größten weltweit – beste Voraussetzungen für eine schrittweise Überführung in eine nachhaltige Stahlerzeugung“ aufweise, heißt es in dem Papier.
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Thyssenkrupp-Chefin Martina Merz sagt in Düsseldorf, das Unternehmen wolle „so schnell wie möglich“ die Stahlproduktion auf klimafreundliche Verfahren umstellen. „Die Transformation ist sehr teuer“, räumt Merz allerdings ein. Thyssenkrupp allein rechne beim heutigen Niveau der Produktion mit Kosten in Höhe von rund zehn Milliarden Euro bis zum Jahr 2050. Die finanziellen Mittel in der Branche sind knapp, die Stahlkonzerne in der Corona-Krise erheblich unter Druck geraten. Angesichts notwendiger Investitionen hofft die Industrie auf staatliche Hilfen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Laschet hat schon bei anderer Gelegenheit klarmacht, dass er die Stahlhersteller für „systemrelevant“ hält. Der Aufbau einer Wasserstoff-Wirtschaft bietet große Potenziale, kostet aber zunächst einmal viel Geld.