Essen. ÖPNV, Unis, Olympia – der Initiativkreis Ruhr hat viele Ideen für die Region. Die IR-Chefs Tönjes und Lange erläutern ihre Pläne im Interview.
In der Wirtschaft wird der Ruf nach tiefgreifenden Reformen für das Ruhrgebiet laut. Im Interview mit unserer Redaktion regen die Chefs des Initiativkreises Ruhr, Bernd Tönjes und Thomas A. Lange, unter anderem Fusionen der Verkehrsbetriebe und einen Schuldenerlass für die finanziell angeschlagenen Kommunen an. Zudem wünschen sich Tönjes und Lange einen „Repräsentanten des Reviers“ aus der Runde der Oberbürgermeister, der die Interessen des Ruhrgebiets kraftvoll vertreten sollte. Zum Initiativkreis Ruhr (IR) gehören mehr als 70 Institutionen und Unternehmen, darunter Eon, RWE, Thyssenkrupp und Evonik. RAG-Stiftungschef Tönjes dringt insbesondere auf Veränderungen beim ÖPNV. „Ich verstehe nicht, warum wir ein Dutzend Verkehrsbetriebe im Ruhrgebiet brauchen“, sagt Tönjes, der auch Chef der RAG-Stiftung ist. „Straßen- und Stadtbahnen fahren auf verschiedenen Gleisbreiten, Verbindungen reißen mitunter an Stadtgrenzen ab. Auch das Tarif- und Ticketsystem ist kompliziert“, kritisiert er. Tönjes fordert eine „zentrale Steuerungseinheit“ für den Nahverkehr und sagt: „Die Verkehrsbetriebe sollten auch über Fusionen sprechen.“ Hier lesen Sie das Interview im Wortlaut:
Herr Tönjes, Herr Lange, die Corona-Pandemie trifft viele Unternehmen mit voller Wucht, Thyssenkrupp und Karstadt-Kaufhof, zwei Ikonen des Ruhrgebiets, geraten ins Wanken. Sind Unternehmen aus unserer Region besonders stark von der Corona-Krise betroffen?
Tönjes: Manche Branche wie der Einzelhandel und die Stahlindustrie spüren die Folgen der Pandemie besonders stark. Viele Unternehmen aus dem Ruhrgebiet haben sich aber auch als äußerst robust erwiesen, ich denke beispielsweise an die Energieversorger. Corona trifft ja alle Wirtschaftsregionen. Andere Regionen Deutschlands, in denen etwa die Auto- oder die Luftfahrtindustrie prägend sind, haben auch ihre Probleme.
Wird das Coronavirus die Wirtschaft länger und stärker belasten als andere globale Krisen zuvor
Lange: In einer globalisierten Welt werden Pandemien eine stärkere Bedeutung haben als in der Vergangenheit. Darauf müssen wir uns einstellen. Der Kenntnisstand über das Virus wird aber wachsen. Die Forschung macht schnelle Fortschritte. Wenn es erst einmal einen Impfstoff gibt, ändert sich die Situation grundlegend. Gerade jetzt zeigt sich auch, wie stark der Gesundheitssektor im Ruhrgebiet ist. Insofern ist die Krise zugleich eine Chance.
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Ist die Corona-Krise auch ein Testfall dafür, wie solidarisch die Menschen sind?
Tönjes: Ganz sicher. Solidarität und Zusammenhalt sind Werte, die den Bergbau seit jeher geprägt haben – und die auch nach dem Ende der Steinkohlenförderung bleiben. In der Corona-Krise zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Menschen aufeinander Rücksicht nehmen. Jetzt müssen wir alle zusammenhalten. Der Initiativkreis selbst ist geboren aus der Montankrise Ende der 1980-er Jahre und seither gelebte Solidarität mit dem Ruhrgebiet und seinen Menschen. Unser Kreis war stets ein verlässlicher Partner der Region. Und er wird es in dieser Krise und darüber hinaus bleiben.
Wird die Wirtschaft nach der Corona-Krise noch wiederzuerkennen sein?
Tönjes: Die Wirtschaft hat sich schon vor Corona enorm schnell gewandelt, nun steigt der Veränderungsdruck zusätzlich. Der Alltag vieler Menschen wird in Zukunft wohl anders sein. Das Ruhrgebiet kann Wandel. Das hat diese Region immer wieder bewiesen.
Die Veränderungsgeschwindigkeit in der Ruhrgebietswirtschaft ist ohnehin enorm. In Ihre Amtszeit an der Spitze des Initiativkreises Ruhr, die Jahre 2016 bis 2020, fallen viele Konzernumbauten, unter anderem aufgrund der Energiewende. Sind die Unternehmen mehr Getriebene – oder Antreiber?
Lange: Wettbewerb ist ein dynamischer Prozess. Es gibt Phasen, da sind Unternehmen getrieben, manchmal treiben sie selbst an. Viele Ruhrgebietsunternehmen zeigen, dass sie die Kraft haben, sich neu zu erfinden. Aus Thyssenkrupp spaltet sich ein starker Aufzugkonzern ab. Mit Evonik haben wir einen starken Spezialchemiehersteller mit Ursprüngen in der Kohle. Die Energieversorger Eon und RWE positionieren sich erfolgreich neu.
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Mangelt es an Start-ups im Ruhrgebiet?
Lange: Die Montanindustrie war sehr dominant. Teilweise sind diese Unternehmen nun auf dem Rückmarsch. Klar ist: Wir brauchen mehr Mittelstand und kleine Unternehmen. Als Initiativkreis Ruhr fördern wir gezielt die Gründerszene. Daher haben wir mit unserem Gründerfonds rund 40 Millionen Euro zusammengetragen, um jungen Firmen das notwendige Kapital zu verschaffen. Die ersten vielversprechenden Investments sind getätigt.
Als Schlüssel zum Erfolg gilt eine enge Zusammenarbeit von Wirtschaft und Hochschulen. Können die Unternehmen hier mehr tun?
Lange: Wir haben 270.000 Studierende in der Region und eine Hochschullandschaft, die in Deutschland eine Spitzenposition einnimmt. Wir wollen als Initiativkreis Ruhr die Hochschulen noch stärker als bisher einbinden. Zusätzlich zu den Rektoren der Ruhr-Universität Bochum, der TU Dortmund und der Universität Duisburg-Essen nehmen wir nun mit Bernd Kriegesmann den Präsidenten der Westfälischen Hochschule in unseren Kreis auf. Er vertritt das Ruhrvalley, also den Verbund der Fachhochschulen in Bochum, Gelsenkirchen und Dortmund.
Die von der NRW-Landesregierung initiierte Ruhr-Konferenz hatte ihren Auftakt im Jahr 2018 beim Initiativkreis Ruhr. Seitdem haben sich auch viele Unternehmen und ihre Chefs mit Ideen eingebracht. Gibt es denn schon zählbare Ergebnisse?
Tönjes: Dass Ministerpräsident Laschet bei uns den Auftakt für die Ruhr-Konferenz gemacht hat, ist ein starkes Signal. Jetzt liegen 74 konkrete Projektvorschläge auf dem Tisch. Wir haben uns aktiv eingebracht. Wenn man so will, ist der Initiativkreis Ruhr ja aus der ersten Ruhr-Konferenz vor 30 Jahren entstanden. Angesichts von Corona ist jetzt eine stärkere Fokussierung der Projekte besonders wichtig.
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Wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
Tönjes: Bei der Infrastruktur ist viel zu tun. Das haben wir auch in einem Positionspapier für die Ruhr-Konferenz herausgearbeitet, das wir zur Vollversammlung des Initiativkreises diesen Monat vorlegen werden. Seit vielen Jahren lebt das Ruhrgebiet, was die Infrastruktur angeht, aus der Substanz. Wenn man morgens auf der A40 steht, weiß man, wovon ich rede. Staus, Baustellen und Umleitungen bremsen Pendler und Warenströme aus. Nicht nur das Straßen-, sondern auch das Schienen- und das Binnenschifffahrtsnetz müssen umfassend saniert werden, unter anderem durch die Modernisierung und den Neubau von Brücken und Schleusen. Wir haben am Chemiestandort Marl häufig Probleme, Rohstoffe rein- und Fertigprodukte rauszubekommen, weil die Schleusen marode sind. So kann es nicht bleiben.
Wie steht es aus Ihrer Sicht um den ÖPNV?
Tönjes: Ich verstehe nicht, warum wir ein Dutzend Verkehrsbetriebe im Ruhrgebiet brauchen. Eine solche Zersplitterung ist schädlich. Straßen- und Stadtbahnen fahren auf verschiedenen Gleisbreiten, Verbindungen reißen mitunter an Stadtgrenzen ab. Auch das Tarif- und Ticketsystem ist kompliziert. Wenn man von Dortmund nach Duisburg fahren möchte, macht man sein Notabitur. Kein Wunder, dass nur zehn Prozent der Menschen in der Region öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Die Verkehrsbetriebe sollten auch über Fusionen sprechen, damit aus dem Flickenteppich ein Gesamtbild wird. Es wäre gut, eine zentrale Steuerungseinheit für den Nahverkehr zu schaffen.
Den Kommunen im Ruhrgebiet fehlt vielfach das Geld für Veränderungen. Reichen die im Konjunkturpaket beschlossenen Entlastungen aus?
Lange: Die Schuldenlast vieler Kommunen im Ruhrgebiet ist erdrückend. Bund und Land müssen schnellstmöglich dafür Sorge tragen, dass diese Kommunen durch einen Schuldenschnitt wieder handlungsfähig werden. Dass die Gewerbesteuern hier so hoch sind, hat ja Ursachen. Zur Erinnerung: Alfred Herrhausen, einer der Gründerväter des Initiativkreises Ruhr, war der erste Bankier, der sich für den Schuldenerlass finanziell angeschlagener Länder eingesetzt hat – und zwar in dem Bewusstsein, dass ab einer bestimmten Verschuldung die notwendige Befreiung aus der Notlage aus eigener Kraft nicht mehr möglich ist.
Sie fordern einen Schuldenerlass für das Ruhrgebiet?
Lange: Wir wollen keine Lex Ruhrgebiet. Es geht hier um ein Thema, das neben den Ruhrgebietsstädten auch weitere Kommunen in Deutschland betrifft. Nach der Wiedervereinigung haben die Menschen des Ruhrgebiets auch den Osten massiv unterstützt. Den Solidaritätszuschlag zahlen wir bis heute. Wir brauchen eine gesamtdeutsche Lösung für einen Schuldenschnitt, die unserem föderalen System entspricht.
Hat das Ruhrgebiet in Bundestag und Bundesrat keine Lobby?
Tönjes: Jedenfalls könnte die Stimme des Ruhrgebiets stärker vernehmbar sein. Es wäre gut, wenn das Ruhrgebiet aus der Runde der Oberbürgermeister und Landräte einen zentralen Ansprechpartner bekommt, der unserer Region ein Gesicht und eine Stimme gibt. Dieser Repräsentant des Reviers könnte die Interessen der gesamten Region nach innen wie nach außen kraftvoll vertreten.
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Ein Thema, für das Sie sich auch einsetzen, sind die Olympischen Spiele 2032, die Sie in die Region holen wollen. Ist dieses Ziel realistisch?
Tönjes: Im Moment sehen wir in den Stadien nur Geisterspiele. Aber bis 2032 fließt noch viel Wasser die Ruhr und den Rhein hinunter. Das Ruhrgebiet ist schon jetzt eine Hochburg des Breiten- und Spitzensports. Kaum eine Region kann eine so hohe Dichte an Sportstätten für Wettkämpfe auf internationalem Niveau vorweisen. Mit der Austragung von nachhaltigen Olympischen und Paralympischen Spielen an Rhein und Ruhr im Jahr 2032 böte sich auch eine große Chance für die Modernisierung der Infrastruktur und des Nahverkehrs.
Fünf Jahre stehen Sie nun an der Spitze des Initiativkreises Ruhr – so lange wie kein Team vor Ihnen. Welche Tipps geben Sie Ihren designierten Nachfolgern Rolf Buch von Vonovia und Andreas Maurer von der Unternehmensberatung Boston Consulting?
Tönjes: Die beiden benötigen unsere Ratschläge nicht. Jeder wird natürlich seine eigenen Akzente setzen. Für uns gilt: Es hat Spaß gemacht…
Lange: … und das macht es auch weiterhin.
Tönjes: Vielleicht ist das ja ein guter Ratschlag.