Mülheim. In der Corona-Krise scheuen viele Frauen den Besuch beim Gynäkologen. Die Krise bremst ein Start-Up mit blinden Tast-Expertinnen besonders aus.

Die Frauen sind blind oder schwer sehbehindert und sie haben eine besondere Fähigkeit: Sie können Tumore in der weiblichen Brust in einem so frühen Stadium ertasten wie kein Arzt oder keine bildgebende Technik. Mit der Kontaktsperre während der Corona-Pandemie hat das Mülheimer Sozialunternehmen Discovering Hands Kurzarbeit für 35 der 50 „Medizinisch Taktilen Untersucherinnen“ (MTU) angemeldet. Es hat die Krise aber auch genutzt, mit Hilfe der blinden Frauen ein digitales Programm zur Selbstuntersuchung der Brust zu entwickeln.

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In Deutschland leben nach Angaben der Bundesregierung 13 Millionen Menschen mit Behinderung – das sind rund 15 Prozent der Bevölkerung. „Die Folgen der Corona-Pandemie treffen Familien mit behinderten Angehörigen ganz besonders hart“, sagt Ulla Schmidt, die Bundesvorsitzende des Verbands Lebenshilfe. Menschen mit Beeinträchtigung haben nach ihrer Einschätzung oft Vorerkrankungen und damit ein hohes Risiko, bei einer Ansteckung mit dem Corona-Virus schwer zu erkranken.

Behinderte leiden besonders unter der Pandemie

Den europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, der traditionell am 5. Mai begangen wird, wollen Betroffene und ihre Interessenvertretungen nutzen, um auf existenzielle, aber auch alltägliche Probleme aufmerksam zu machen: Mängel bei der Erklärung der Pandemie in einfacher und Gebärdensprache, der Mangel an Schutzkleidung, aber auch die Lage in Behinderten-Werkstätten, wo die Arbeit weitgehend ruht.

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Corona trifft auch Discovering Hands hart, ein expandierendes Start-up-Unternehmen aus Mülheim, das Tasterinnen ausbildet und beschäftigt. „Für das laufende Geschäftsjahr hatten wir geplant, die Gewinnschwelle zu überschreiten“, sagt Geschäftsführer Arndt Helf. Doch dann kam Corona. Seit Mitte März dürfen die Frauen nicht mehr in den bundesweit 100 gynäkologischen Praxen arbeiten, die mit Discovering Hands kooperieren. Die Kontaktsperre betrifft aber auch die großen Unternehmen wie Siemens oder Hanse Merkur, wo die MTUs im Rahmen der Krebsvorsorge Mitarbeiterinnen regelmäßig untersuchen.

Discovering Hands: Umsatz in der Krise auf Null

„Unser Umsatz ging auf Null. Als Inklusionsunternehmen bleiben uns nur die Lohnzuschüsse des Integrationsamts“, erklärt Helf. KfW-Mittel könne Discovering Hands nicht abrufen. „Da fallen wir durch das Raster.“ Um über die Runden zu kommen, hat das Mülheimer Unternehmen in Windeseile seine bereits existierende Anleitung zur Selbstuntersuchung der Brust digitalisiert und kann damit im Auftrag von Unternehmen die Anleitungen jetzt per Videokonferenz für die Belegschaft anbieten.

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Kleine Gruppen von Frauen treffen sich online und erlernen unter Anleitung einer zugeschalteten MTU und deren sehender Assistentin, wie man die eigene Brust strukturiert abtastet. „Wir starten noch im Mai die ersten Projekte mit Firmen und befinden uns gerade in der abschließenden Testphase“, so der Geschäftsführer.

75 Prozent der Brusttumore entdecken Frauen selbst

Helf weiß aus Studien, dass 80 Prozent der Frauen darauf verzichten, ihre Brüste einmal pro Monat selbst zu untersuchen, weil sie die Unsicherheit fürchten. Dabei würden 75 Prozent der Tumore in der Brust von den Frauen selbst entdeckt, weil ihnen etwas Ungewöhnliches am Körper auffällt.

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„Die Digitalisierung entkoppelt unsere Mitarbeiterinnen räumlich“, meint Helf. Die blinden Frauen sind darauf angewiesen, mit Bus und Bahn in die Arztpraxen und Unternehmen zu fahren. „Während der Pandemie öffnet aber kein Busfahrer die vordere Tür und beantwortet den Blinden die Frage, ob sie die richtige Linie genommen haben“, so der Geschäftsführer von Discovering Hands. Sie könnten im Bus zudem den Abstand zu anderen Fahrgästen nicht einschätzen. Und zu Hause warteten oft die Kinder, die derzeit nicht zur Schule oder in die Kita gehen können. 60 Prozent der MTUs sind Mütter.

Brusterstastung per Videokonferenz

„Zum Glück hatten wir bereits seit einem Jahr das Ausbildungskonzept für den MTU-Nachwuchs zu großen Teilen auf eine E-Learning-Plattform gestellt“, erklärt Helf. Somit habe die Ausbildung der aktuell acht Frauen auch während der Corona-Krise fortgeführt werden können. Und Discovering Hands sucht weitere Frauen, die das Tasten erlernen wollen.

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In dieser Woche, so der Geschäftsführer, liefen die taktilen Untersuchungen in einigen gynäkologischen Praxen wieder an. Normalität zeichne sich aber noch lange nicht ab. „Die Patientinnen haben Angst, sich mit dem Coronavirus anzustecken. Es kommen sehr viel weniger in die Praxen“, sagt Dr. Frank Hoffmann, Frauenarzt aus Duisburg, der Gründer von Discovering Hands. In seiner Praxis betreue er aktuell nur Schwangere und Notfälle.

„Die regulären Vorsorgeuntersuchungen werden um bis zu sechs Monate verschoben. In dieser Phase macht die richtig ausgeführte Selbstuntersuchung der Brust besonders viel Sinn“, meint Hoffmann. Zumal auch die Radiologen wegen des Kontaktverbots bei der Mammographie darauf verzichteten, die Brust abzutasten.