Dortmund. Anja Hirschel ist fast blind. Für ihren Job als Medizinische Tastuntersucherin war das kein Handicap – sondern Voraussetzung.

Anja Hirschel tanzt. Mit flinken Fingern über die blanke Brust von Petra R., auf die sie bunte Streifen mit kleinen Pünktchen geklebt hat. Kein Millimeter Haut, kein Fleckchen darunter bleibt unangetastet. Anja Hirschel nennt das: den MTU-Walzer. Ärzte lieber: Medizinische Tastuntersuchung. Für die Krankenkasse von Petra R., der Patientin auf der Liege in der Praxis einer Dortmunder Gynäkologin, ist es: eine Leistung im Rahmen der Krebs-Vorsorge.

Anja Hirschel beschreibt sich als eine, „die immer kämpfen musste“, eine, die sich schon als Kind im Rheingau ausgegrenzt fühlte, wo sie vor 45 Jahren geboren wurde – weil sie fast blind zur Welt kam: Ihre Sehkraft liegt unter 20 Prozent. Lesen oder fernsehen kann die Mutter eines Sohnes (18) nur, wenn Buchstaben oder Bildschirm riesig sind; Umrisse sieht sie verschwommen, jeden Einkauf im Supermarkt muss sie präzise vorbereiten, Autofahren geht gar nicht.

Eine Begabung, die Leben retten kann

Die Eltern schickten die Tochter auf eine Regel-Schule. „Ich kam zurecht, mit Brille und Lupe“, erinnert sich Hirschel, „doch ich musste mich immer doppelt anstrengen, um mithalten zu können.“ Das Gymnasium beendete sie mit dem Hauptschulabschluss, lernte Winzerin, fand einen Job in der Weinbauforschung. 2012 zog sie von Hessen nach Dülmen, wo Winzer nicht gefragt sind. Hirschel landete im Weinhandel, erhielt die Kündigung. Sie versuchte es als Altenpflegerin, scheiterte an der Vergrößerungshilfe, die sie für die Dokumentation am PC brauchte und die ihr Chef nicht zahlen wollte. „Ich musste Kollegen bitten, meine Arbeit zu machen. Wissen Sie, wie sich das anfühlt?“

Verbittert googelte sie „Berufe für sehbehinderte Frauen“. Der Treffer „MTU“ war tatsächlich einer: 2015 begann Anja Hirschel bei „discovering hands“ (siehe Zweittext) die Ausbildung zur MTU, zur Medizinischen Tastuntersucherin. Seit Februar arbeitet sie bei der Dortmunder Frauenärztin Susanne Scholle. Ihr Leben, sagt sie, habe sich seither völlig verändert. „Diesen Job bekam ich, weil ich behindert bin – nicht obwohl.“ In der Ausbildung lernte sie, ihr Handicap nicht als Einschränkung, sondern auch als Chance zu sehen – und ihren Tastsinn als „Begabung, die Leben retten kann“, wie der Vater der Idee, der Duisburger Gynäkologe Frank Hoffmann, sagt. Der Perspektivwechsel machte Anja Hirschel stärker und selbstständiger. Vor der Ausbildung ließ sie sich zum Termin um die Ecke chauffieren, heute nimmt sie Einladungen in weit entfernte, fremde Städte an und reist allein hin. Auch eine neue Liebe hat sie gefunden „Durch die Wertschätzung, die man als MTU erfährt, wächst man“, sagt sie.

40 MInuten dauert die komplette Tastuntersuchung

Petra R. (44) ist an diesem Tag in Dortmund Hirschels erste Patientin. Ihre Frauenärztin empfahl die MTU. „Zusammen mit der regelmäßigen Selbstuntersuchung und bildgebenden Verfahren ist das die sicherste Vorsorge-Kombination“, findet Dr. Susanne Scholle. „Ein Arzt“, sagt ihr Duisburger Kollege Hoffmann,, „hat nicht das Fingerspitzengefühl einer blinden Frau – und nur ein, zwei Minuten Zeit fürs Abtasten der Brust.“ Die MTU nimmt sich 40. Sie berechnet dafür 46,50 Euro. Noch nicht allen Kassen ist es das wert. Obwohl, das beweisen Studien, MTU tatsächlich sehr viel mehr und sehr viel kleinere Tumore finden als Ärzte – bis zu vier Millimeter kleine.

„Zysten fühlen sich ganz glatt an, so wie Filzstiftspitzen“

Petra R. hat erst am Tag vor der Untersuchung erfahren, dass sie Trägerin des BRCA1-Gens ist, des Angelina-Jolie-Gens, wie sie sagt. Ihre Wahrscheinlichkeit, Brustkrebs zu bekommen, ist höher als bei anderen. Ihre Chance, dass er so früh entdeckt wird, dass er geheilt werden kann, will sie nutzen.

Darum lässt sie sich nun Anja Hirschels „Koordinatensystem“ auf die Haut kleben, die Streifen mit den Punkten. „Ich hab mich extra nicht eingecremt“, sagt sie der MTU, „damit der Duft beim Tasten nicht ablenkt“. „Sehr schön“, lacht Anja Hirschel. Nicht, weil der Geruch einer Bodylotion sie gestört hätte, aber: „Die Streifen haften ohne besser.“ Sie helfen bei der Orientierung, ohne könnte die MTU der Ärztin gar nicht mitteilen, wo genau ihr Befund zu finden ist. „Die MTU berichtet mir, ich überprüfe das, ich stelle die Diagnose“, erklärt Gynäkologin Scholle.

Anja Hirschel beginnt mit dem Abtasten von Lymphknoten und Brust, ihrem „Walzer“. Millimeter für Millimeter tastet sie sich vor, strukturiert, fokussiert. „Meine Augen fließen dabei in meine Fingerspitzen“, sagt sie. Eine Zyste („glatt, wie eine Filzstiftspitze“) fühle sich für sie ganz anders an als ein Karzinom („derb, mit unebener Oberfläche“). Ihr erstes entdeckte sie, da war sie noch Auszubildende. 1,6 Zentimeter groß sei jener Tumor gewesen, und die Brust der Patientin „sehr, sehr groß“. „Die Ärztin war total überrascht, dass ich den gefunden hatte“, erinnert sie sich.

„Nächstes Jahr komme ich wieder“

Auch Petra R.ist begeistert, dass Anja Hirschel auf Anhieb die „verdichtete“ Stelle findet, die schon dem Radiologen aufgefallen war – „bei einer Mammografie nach einer Reihe von Extra-Aufnahmen“. „Das hatte ich doch gar nicht erwähnt. Dass eine MTU das tasten kann . . . , sehr beruhigend“. Nächstes Jahr kommt sie wieder.

>>> INFO: ANFANG 2017 STARTEN NEUE QUALIFIKATIONSKURSE

  • Anfang 2017 starten neue Qualifikationskurse bei „discovering hands“ für blinde oder stark sehbehinderte Frauen. Neun Monate dauert die Ausbildung zur MTU. Die Prüfung findet vor einer Ärztekommission statt. Die Kosten übernimmt in der Regel der Reha-Träger. Späterer Verdienst: etwa 1800 Euro. www.discovering-hands.de
Untersuchungen mit Gefühl: Das Sozialunternehmen „discovering hands“ 

Mit einer vagen Idee und drei blinden Frauen fing 2006 alles an: Als ein Jahr später die beiden ersten Medizinischen Tastuntersucherinnen die Arbeit aufnahmen, war das für Dr. Frank Hoffmann nicht viel mehr als ein vorsichtiger Versuch. „Wir wollten mal gucken, ob das geht“, erinnert sich der Duisburger Gynäkologe. Es ging.

Nur der Name ist geblieben: „discovering hands“, entdeckende Hände. Aus dem Pilotprojekt aber ist längst ein florierendes, mehrfach ausgezeichnetes Sozialunternehmen geworden. Gerade erst wurde es nominiert für den „Next Economy Award“, den Deutschen Nachhaltigkeitspreis. In Berlin bauten sie jüngst das erste „MTU-Center“, bundesweit gibt es mehr als 30 MTU an 28 Orten – und welche in Österreich, Mexiko, Indien und Kolumbien. Aber: Es müssten noch viel mehr sein, um der Nachfrage gerecht zu werden.

Nachfrage übersteigt die Möglichkeiten deutlich

„Fast täglich“ erhalte er entsprechende Anrufe, erzählt Hoffmann, der „niemals, wirklich nicht“ mit dieser rasanten Entwicklung gerechnet hätte. „Das grenzt schon an Magie“, sagt der 57-Jährige. Dabei waren Ärztekammer, Berufsförderungswerk und Gesundheitsministerium auf Anhieb von seiner Idee begeistert, der Landschaftsverband Rheinland, der 200 000 Euro als Starthilfe gab, hielt sie gar für „genial“. Es sei selten, sagte damals ein Sprecher, dass man für „so kleines Geld so viel erreicht“.

15 bis 20 MTU will das Mülheimer Unternehmen künftig pro Jahr ausbilden, sagt Hoffmann, in dessen eigener Praxis in Duisburg inzwischen die dritte MTU tätig ist. Sie betreut rund 800 Patientinnen. Eine von ihnen fährt für ihre MTU 800 Kilometer weit: von Karlsruhe nach Duisburg und zurück. Dem Gründer und Geschäftsführer von „discovering hands“ ist das nicht genug. Sein Fernziel, sagt der Arzt, sei erreicht, wenn die MTU zur Krebsvorsorge gehöre wie die Hebamme zur Geburt. Und warum sollte man den Gedanken nicht weiterspinnen, den Tastsinn blinder Menschen auch jenseits der Brustvorsorge zu nutzen? Hoffmann glaubt: „Einsätze sind denkbar bei der Untersuchung von Augeninnendruck, Schilddrüse und Prostata, dann mit männlichen MTU!“