Essen/Duisburg/Bochum. In Zeiten von Corona zögern auch im Ruhrgebiet immer mehr Menschen, Ärzte wegen anderer Notfälle zu rufen. Das kann lebensgefährlich werden.
Es schmerzt im Arm, es sticht in der Brust aber keiner greift zum Telefon und alarmiert den Notarzt. „Wir verzeichnen seit einiger Zeit einen auffälligen Rückgang von neurologischen und kardiologischen Notfällen“, sagt Thorsten Schabelon, Sprecher der Uniklinik Essen. „Um gut die Hälfte ist die Zahl der Fälle im März gesunken“, präzisiert Tienush Rassaf, Direktor der Klinik für Kardiologie und Angiologie an der Uniklinik Essen.
„Ähnliche Zahlen gibt es auch bei uns“, sagt Christoph Kleinschnitz, Direktor der Klinik für Neurologie in Essen und spricht von einem „dramatischen Bild“. Denn eigentlich hätte die Zahl der Fälle sogar steigen müssen. „Die Menschen sind ja alle im Land und zu Hause, niemand ist im Urlaub.“
Phänomen wird in vielen Kliniken beobachtet
Das Phänomen beschränkt sich nicht auf Essen, sondern zieht sich durch fast alle Kliniken des Reviers. Auch Wolfgang Lepper, Chefarzt der Kardiologie am Helios Klinikum Duisburg bestätigt: „Momentan kommen deutlich weniger Patienten mit den Symptomen eines Herzinfarkts in die Notaufnahme.“
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Ein Grund zur Freude ist das nicht. Denn tatsächlich dürfte die Zahl der Notfälle nicht zurückgegangen sein. Viele Patienten hätten Angst, sich in der Klinik mit dem Coronavirus zu infizieren, weiß Lepper. Andere, haben auch Rassaf und Kleinschnitz in Gesprächen erfahren, wollten das Krankenhauspersonal in der derzeitigen Situation nicht mit vermeintlichen Lappalien belasten.
Keine Lappalien sondern lebensbedrohliche Erkrankungen
Rund 47.000 Tote im Jahr durch Herzinfarkt
In Deutschland sterben jedes Jahr fast 345.000 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, darunter etwa 47.000 Menschen am Herzinfarkt. Rund 30 Prozent von ihnen sterben laut der Deutschen Herzstiftung außerhalb der Klinik - auch, weil sie zu spät oder gar nicht den Notarzt alarmieren.
Annähernd 270.000 Menschen erleiden jährlich in Deutschland einen Schlaganfall, knapp 200.000 davon sind erstmalige Schlaganfälle
Doch weder Schlaganfall noch Herzinfarkt sind Lappalien. Ganz im Gegenteil. „Das sind lebensbedrohliche Erkrankungen“, stellt er unmissverständlich klar. „Aber in beiden Fällen gibt es Behandlungsoptionen“, ergänzt Kleinschnitz. „Wir können helfen.“ Auch in Zeiten von Corona. Die Kapazitäten in den Kliniken für andere Notfälle seien – Stand jetzt – da, sagen die Mediziner aus Essen. Sowohl bei den Intensivbetten als auch beim Personal. Zudem gebe es „hohe Sicherheitsmaßnahmen“ zum Schutz vor dem Virus.
Ob Schmerzen in der Brust und/oder im Arm, Atemnot und Übelkeit. Ob Sprachstörungen Schwindel oder Taubheitsgefühl – „wählen Sie die 112“, raten Rassaf und Kleinschnitz. „Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.“ Auch Krebspatienten sollen ihre Behandlungen oder zwingend notwendigen Operationen nicht unterbrechen oder absagen. „Vieles lässt sich nicht aufschieben“, warnen die Essener Professoren.
Wer allein lebt, hat eine viel höhere Hemmschwelle
In Bochum ist der Rückgang der Rettungsfahrten bei Herzinfarkten und Schlaganfällen „noch nicht gravierend“, sagt Simon Heußen, Leiter der Feuerwehr Bochum. ,Aber natürlich unterstützt er den Aufruf der Mediziner. „Wir kommen.“ Nicht nur, wenn es um Corona geht.
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Essens Feuerwehrsprecher Mike Filzen sieht noch eine ganz andere Gefahr. Manche Notfälle, fürchtet er, würden derzeit offenbar seltener entdeckt, weil wegen des Kontaktverbotes die soziale Kontrolle plötzlich fehle. Kleinschnitz teilt diese Befürchtung. „Wer alleine lebt hat oft eine viel höhere Hemmschwelle, den Notdienst zu rufen.“ Wenn er denn überhaupt noch eigenständig dazu in der Lage ist. „Achten Sie unter Wahrung des Abstandsgebotes und Beachtung der Hygieneregeln auf ihre Familienangehörigen, Nachbarn, Freunde und Fremde“, bittet Filzen dann auch. „Ein verschleppter Schlaganfall oder Herzinfarkt birgt ein wesentlich höheres Risiko als die Gefahr durch das Corona-Virus.“
Wenig Bewegung, viel Essen - die Gefahr wird nicht kleiner
Und die Gefahr für beides wird ja nicht kleiner. Weniger Bewegung, dafür mehr Essen, vielleicht sogar mehr Alkohol und Zigaretten, „die derzeitige Situation lässt das Risiko steigen“, sagt Rassaf. Ganz zu schweigen von der psychischen Situation in vielen Familien. Vier Wochen mit vier Menschen auf 50 der 60 Quadratmetern, „da kann man nicht immer wirklich zur Ruhe kommen“, sagt der Kardiologe. „Das kann auch schnell zu sozialem Stress werden.“