Essen. In der Corona-Krise soll Evonik-Chef Kullmann als VCI-Präsident der Chemiebranche mit 462.000 Beschäftigten Orientierung geben – ein Porträt.

Große Veränderungen illustriert Christian Kullmann gerne anhand kleiner Anekdoten. So auch Anfang März. Es sind die Tage, als die Corona-Krise erste Hamsterkäufe in Deutschland auslöst. Evonik-Chef Kullmann sitzt auf dem Podium für die Bilanzpressekonferenz und erzählt freimütig, wie ihn kurz zuvor seine Frau aus dem Supermarkt angerufen habe, um zu berichten: „Schatz, die Regale sind leer.“ Mag sich die Welt verändern, Kullmanns Plauderton bleibt. Das erweist sich auch wenige Tage später. Ein Besuch im weitläufigen Chefbüro auf der 32. Etage der Evonik-Zentrale steht an. Es soll um ein neues Amt für Kullmann gehen. Mitten in der Corona-Krise übernimmt er den Vorsitz des Verbands der Chemischen Industrie – kurz VCI. Fortan vertritt der Evonik-Chef an vorderster Front die Interessen einer Branche mit bundesweit 1700 Unternehmen und 462.000 Beschäftigten.

Kullmann nimmt an einem langen Holztisch mit vielen Stühlen Platz. Vor ihm steht ein Aschenbecher für seine Zigarillos der Marke Moods. Daneben liegen ein Feuerzeug mit Firmenlogo und Zuckertütchen mit dem Slogan „Kraft für Neues“. Von draußen ist leises Rauschen der A40 zu hören. Kullmann demonstriert Gelassenheit. „Verzweifelte Hektik hilft nicht, sie schadet“, sagt er, wenn er auf die Corona-Krise angesprochen wird. „Die Lage verändert sich täglich, das erfordert Flexibilität.“ Und doch gehe es ihm auch jetzt um „den langen Blick“.

Noch ist nicht klar, wie hart die Corona-Krise eine der wichtigsten deutschen Branchen treffen wird. Einerseits sind Medikamente und Desinfektionsmittel gefragt wie nie, andererseits brechen Aufträge für die Chemiefabriken weg, wenn die Autobauer ihre Werke schließen und der private Konsum einbricht. Beim VCI wird dieser Tage betont, gerade kleinere mittelständische Unternehmen mit 100 oder 200 Mitarbeitern könnten in eine Schieflage geraten.

Spielraum für Kurzarbeit in einzelnen Evonik-Betrieben

„Ich bin lieber Zukunftsgestalter als Krisenmanager“, sagt Kullmann zwar – und doch ist dieser Tage sein Krisenmanagement gefragt. In einer Telefonkonferenz mit Gesundheitsminister Spahn organisiert Kullmann für den VCI eine bundesweite Drehscheibe zur Notversorgung von Kliniken mit Desinfektionsmitteln. Bei Evonik handelt Kullmann mit dem Gesamtbetriebsrat Regelungen aus, um Spielraum zu bekommen, in einzelnen Betrieben vorübergehend Kurzarbeit einzuführen.

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Schon vor Ausbruch der Corona-Pandemie hat Kullmann gerne das Modell einer starken Arbeitnehmerbeteiligung hervorgehoben. Zu Jahresbeginn ließ er eine Großveranstaltung zu 100 Jahren Betriebsrätegesetz organisieren. Auf der Bühne ernannte er sich zum Don Camillo – und die Arbeitnehmervertreter seien die Peppones. Der eine könne nicht ohne den anderen, meinte Kullmann in Anspielung auf die Geschichten vom kommunistischen Bürgermeister und dem schlagkräftigen Priester.

„Herr, Du hast mir ein Amt gegeben, jetzt gib mir den Geist“

Auch NRW-Ministerpräsident Laschet betonte bei dieser Gelegenheit den Wert der Mitbestimmung. Laschet und Kullmann duzen sich. Er habe Laschet schon früh kennen- und zu schätzen gelernt, von einer „taktischen Freundschaft“ könne also keine Rede sein, sagt Kullmann, der offen für Laschet im Rennen um den CDU-Vorsitz wirbt. „Gerade jetzt brauchen wir Optimisten in der Politik“, sagt der Evonik-Chef.

Mit seiner Familie lebt Kullmann auf einem alten Hof am Niederrhein, hier geht der Manager auch in die Kirche. Er bete nicht nur in Krisensituationen, erzählt er, wenn es darum geht, was ihm Orientierung gebe. „Mein Glaube ist meine Haltung“, sagt Kullmann dann. Gott sei Dank habe er als Katholik auch die Chance, beichten zu gehen, fügt er mit einem Schmunzeln hinzu, gefolgt von dem scherzhaften Stoßseufzer: „Herr, Du hast mir ein Amt gegeben, jetzt gib mir den Geist.“

Kullmanns Doppelbelastung in der Corona-Krise

Monate der Doppelbelastung kommen auf Kullmann zu – einerseits die Evonik-Führung während der Corona-Pandemie, andererseits die Aufgabe, als VCI-Präsident seiner Branche Gehör zu verschaffen. Auch er empfinde mitunter Druck, sagt Kullmann, ein Vorstandschef müsse „nicht frei von Furcht“ sein, denn „nur der Dumme fürchtet sich nicht“. Doch wolle er in diesen krisenhaften Zeiten ruhig und entschlossen agieren.

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Gerne schaltet Kullmann auf Angriffsmodus. „Wir wollen Industriestandort bleiben“ – das ist ein Satz, der ihm zu verzagt sei, zu defensiv, sagt er – und seine Stimme wird dabei laut. „Wir müssen nicht bewahren, wir müssen wachsen, innovativer und besser werden.“ Dazu gehöre auch, sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten – mit harter Arbeit und Haltung. „Wenn ich nach China gehe und sage, Work-Life-Balance, gucken die mich an, als komme ich aus dem Zoo“, sagt Kullmann, aber auch: „Wir leben in einer liberalen Demokratie. Die braucht Optimismus und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.“

„Evonik hat eine Zukunft nach Corona“

Ob er sich gelegentlich frage, wie Werner Müller jetzt handeln würde, sein langjähriger Chef und Förderer im Unternehmen, der im vergangenen Jahr gestorben ist? „Ja. Er hat mich geprägt“, sagt Kullmann. „Aber ich handele aus eigenem Verständnis.“ In dem Evonik-Chefbüro, in dem auch sein Ziehvater gearbeitet hat, sind Müllers Bergmann-Bilder ebenso verschwunden wie die BVB-Optik von Kullmanns direktem Vorgänger Klaus Engel. Stattdessen hängen Gemälde von Auszubildenden und Führungskräften zum Thema „Zukunft der Industrie“ an den Wänden.

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Schien es vor seiner Ernennung zum VCI-Präsidenten, die Klimadebatte werde das große Thema seiner Amtszeit, steht nun die Corona-Krise im Mittelpunkt. Einmal in der Woche stellt Kullmann ein Mikrofon auf seinen Schreibtisch, um einen Podcast aufzunehmen, mit dem er die Beschäftigten über die aktuelle Lage informieren will. „Wir stehen vor der größten ökonomischen Herausforderung seit Jahrzehnten“, sagt Kullmann. Aber auch: „Evonik hat eine Zukunft nach Corona.“