Oberhausen. Seit September steht die Industrieware in den Regalen. Bäcker Agethen beginnt erst jetzt mit Spekulatius und Stollen. Ein Besuch klärt das Warum.
Das obere Blech kann raus aus dem Ofen. Darauf goldbraun und zum Rand hin dunkler die ersten Spekulatius des Jahres. Zumindest im Oberhausener Handwerksbäckerei Agethen. Sie fängt bewusst spät an mit dem Adventsgebäck, während bei Aldi, Lidl & Co. stets Anfang September Lebkuchen und Zimtsterne Einzug halten. „Wenn draußen 30 Grad sind und ich das Zeug im Laden liegen sehe, dreht sich mir der Magen um“, sagt Reinhold Agethen mit dem Selbstbewusstsein eines Bäckers, der seinen Familienbetrieb in der vierten Generation führt. „Für Spekulatius und Stollen muss es draußen kalt und dunkel sein.“
Seine Frau Gisela trägt diese „Geschäftsphilosophie“ mit, ringt trotzdem jedes Jahr mit ihrem Mann um jede Woche, die man vielleicht doch mal früher anfangen könnte. Die Leute fragen schließlich danach und die Supermärkte würden es auch nicht anbieten, wenn niemand es kaufen würde, weiß die Geschäftsfrau, die sich im Betrieb Agethen um die Verwaltung kümmert. Doch sie weiß auch, dass sich manches eben nie ändert, so wie diese Gewissheit: „Mein Mann ist Bäcker mit Leib und Seele.“
Die Düfte von Schwarzbrot und Spekulatius
Unscheinbarer könnte der Sitz einer stadtbekannten Bäckerei mit einem guten Dutzend Filialen in Oberhausen und Duisburg nicht sein. Doch hinter der kleinen Filiale an der Alstadener Straße leitet der Duft von abkühlendem Schwarzbrot und eben jenen ersten Spekulatius des Jahres zum Herzen des Betriebs: Im Hinterhof steht die Backstube. Meister, Gesellen und Azubis haben um 10 Uhr morgens Feierabend, das Großreinemachen ist in den letzten Zügen. Jetzt schlägt hier wie jedes Jahr ab Mitte Oktober die Stunde von Günter Jäger.
Der Rentner liebt es, in den 10 Wochen vor Weihnachten seiner Passion nachzugehen und voller Muße Adventsgebäck zu backen, wenn die anderen nach acht frühen Stunden heim gehen. Erst Butter-, Gewürz- und Mandelspekulatius, dann Christstollen und schließlich Baumkuchenschnitten sind seine Kernkompetenzen - und die Agethens froh, einen Spezialisten für dieses Saisongeschäft zu haben.
Jäger demonstriert, warum früher nicht alles besser war: Das Holzbrett mit den geschnitzten bäuerlichen Motiven klatscht auf den Mürbteig, so lassen sich auch heute noch Butterspekulatius formen. Aber nicht so schön dünn wie aus der – auch nicht gerade neuen – Walzmaschine. Das Rezept ist alt und natürlich geheim, Zimt, Kardamom und allerlei Weihnachtsgewürz freilich darin, aber anders als bei den Gewürzspekulatius eher dezent. Ihm geht Mahmut Makhzoum zur Hand, der schon eine Schicht hinter sich hat. Doch der gelernte Konditor aus Syrien, der mangels Anerkennung seiner Ausbildung bei Agethens noch eine Bäckerlehre dranhängt, liebt wie Jäger die etwas feinere Handwerk.
„Das ist halt Handarbeit“
Bei 195 Grad geht’s in den Ofen, für fünf bis sieben Minuten. Diesmal dauert’s etwas länger, Jäger zeigt jeden Fortschritt, „da, jetzt zerfällt das Ammonium, das lockert den Teig auf“, sagt er, „die Ränder bekommen schon Farbe“, schließlich dreht er das Blech um, weil den vorderen noch etwas Bräune fehlt. Auf dem fertigen Blech gleicht kein Spekulatius dem anderen, „das ist halt Handarbeit“, sagt Jäger. Noch sind die Figuren weich und biegsam, müssen noch aushärten. Der Backtubenleiter und frisch gebackene Meister Thomas Miska probiert – und nickt anerkennend.
Auch interessant
Eine halbe Stunde später knuspert es vorne beim ersten Biss im kleinen Kaffee. Den Beinamen „Butter-“ bräuchte es für diese Spekulatius als Geschmacksfindungshilfe nicht. Gisela Agethen gibt einen Kurzabriss über die mehr als 110-jährige Geschichte des Familienbetriebs, erzählt, wie ihr Mann und sie 1981 hier in Oberhausen neu angefangen haben, dass es schwerer wird, gegen die Industriebäcker zu bestehen, sie das aber immer noch ziemlich gut hinbekommen. Draußen hängen wie zur Bestätigung mehrere Stellenanzeigen an der Scheibe.
Es geht beileibe nicht allen so gut: In den vergangenen zehn Jahren ist jeder dritte Bäckereibetrieb in NRW verschwunden, rund 1600 sind noch übrig. Dies, obwohl die Leute immer mehr Backwaren konsumieren. Industrielle Großbäcker beliefern Supermärkte und Discounter, ihre Brötchen und Brote kosten oft nicht mal die Hälfte der Handwerksware. Besonders kleine Familienbetriebe verschwinden deshalb – oder mangels Nachwuchs.
Das Adventsgebäck ist ein eigener Zweig in der industriellen Fertigung, Marktführer das Aachener Unternehmen Lambertz. Der nach eigenen Angaben größte Saisongebäckhersteller der Welt nimmt den frühen Verkaufsstart in den Supermärkten gerne mit. „Im September und Oktober werden ungefähr 35 Prozent der Jahresmenge an Lebkuchen und Spekulatius verkauft. Die Regalfläche ist das Wertvollste, was der Lebensmittelhandel besitzt. Der Handel würde die Artikel nicht im September ins Sortiment nehmen, wenn wir als Verbraucher diese Artikel nicht kaufen würden“, sagt Lambertz-Sprecher Christian Schlosser. November und Dezember seien aber auch bei Lambertz die umsatzstärksten Monate.
Auch interessant
Rund 80.000 Tonnen Adventsgebäck produzieren deutsche Hersteller jedes Jahr, und jeder Deutsche vertilgt laut Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie (BDSI) im Schnitt ein knappes Kilogramm davon. Der Lebkuchen liegt mit 39 Prozent Marktanteil am gesamten Adventsgebäck weit vorn, gefolgt von Spekulatius (22 Prozent), Stollen (20 Prozent) und Dominosteinen (8 Prozent).
Der Weltmarktführer backt Zehntausende Tonnen
Lambertz produziert Zehntausende Tonnen Adventsgebäck pro Jahr und liefert es in alle Welt. Die Handwerksbäckerei Agethen mit ihrem Spekulatiusspezialisten Günter Jäger nicht ganz so viel. Viele Mürbteig-Männchen nimmt er einzeln aus der Form und drapiert sie aufs Blech. Ein paar Tütchen können sie vorne in der Filiale mit einem solchen Blech befüllen. Nächste Woche kommt Jäger wieder, bis dahin müssen die Spekulatius reichen. 100 Gramm kosten übrigens 1,80 Euro. In Tonnen rechnet hier niemand.