Essen. Der frühere Wirtschaftsminister und Chef der RAG-Stiftung, Werner Müller, ist tot. Viele Jahre lang hat er das Ruhrgebiet geprägt – ein Nachruf.
Werner Müller, der langjährige Chef der RAG-Stiftung und ehemalige Wirtschaftsminister, ist am Montagabend gestorben. Das bestätigte ein Sprecher von Evonik.
Die Hauptversammlung lief schon einige Zeit, als sich Werner Müller zu einer Klarstellung veranlasst sah. Eine Aktionärin war auf die Idee gekommen, Müller müsse wegen seiner schweren Erkrankung geschont werden bei seiner letzten Hauptversammlung als Evonik-Aufsichtsratschef. Die Redner sollten sich doch bitteschön beim Fragen zurückhalten. Das ging Müller dann doch ein bisschen zu weit. „Auf dem Kopf sieht’s kahler aus, im Kopf ist alles klar“, sagte er nur.
Werner Müller prägte das Ruhrgebiet als Chef der RAG-Stiftung, von Evonik und Wirtschaftsminister
Werner Müllers Auftritt auf der Hauptversammlung im Mai vergangenen Jahres war seine Art, die öffentliche Bühne zu verlassen – indem er seinen Dienst tat. „Wir sollten uns auf die Tagesordnung konzentrieren, dazu gehört mein Ausscheiden nicht“, sagte er nur. Abschiedsreden überließ er anderen.
Nun ist Werner Müller im Alter von 73 Jahren an den Folgen einer schweren Krebserkrankung gestorben. Das Ruhrgebiet verliert einen Menschen, der die Region viele Jahre lang entscheidend geprägt hat. Gespräche, die sich nicht allein um das vordergründige Thema der Verabredung drehten, gehörten zu seiner Art, Akzente zu setzen und Politik zu machen. Es lohnte sich immer, Müller zu besuchen, mit ihm eine Tasse Tee zu trinken und zuzuhören.
Werner Müller trug das Etikett des mächtigen Ruhrbarons
Es war schon fast zu einem Ritual geworden, dass Müller nach solchen Unterredungen sinngemäß sagte: „Ich bringe Sie noch eben zur Tür.“ Seine Sprecherin blieb dann meist im Büro, und Müller machte sich allein mit seinem Gast auf den Weg, um noch ein paar Worte zu wechseln und sich zu verabschieden. Das Etikett des ebenso unnahbaren wie mächtigen Ruhrbarons, das Müller so oft angeheftet worden ist, passte in solchen Momenten nicht.
Er war gewiss eitel, aber er trug nicht vor sich her, wie verdient er sich um das Land und die Region gemacht hat. Als Wirtschaftsminister und später als Chef des Essener RAG-Konzerns hat Müller den Atomausstieg und das Ende der vom Steuerzahler mitfinanzierten Steinkohleförderung maßgeblich mitgestaltet. Der Abschied vom Alten war stets mit dem Anfang für etwas Neues verbunden.
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Evonik, ein hochprofitables Unternehmen, das aus dem Subventionsempfänger RAG hervorging, ist Müllers Erfindung und steht sinnbildlich für ein Ruhrgebiet, das es aus eigener Kraft schafft. Schließlich wird mit den Dividenden des Konzerns die RAG-Stiftung finanziert, die auf ewig die millionenschweren Folgekosten nach dem Ende der Steinkohlenförderung tragen soll.
Gründervater des Chemiekonzerns Evonik
Der Umbau der RAG mit einst mehr als 100.000 Mitarbeitern war eine ebenso gewagte wie komplexe Operation – Codename Alpha. Der sogenannte schwarze Bereich der Kohle wurde vom weißen Geschäft rund um Chemie, Energie und Immobilien getrennt. Bei der RAG blieben die Zechen. Später sollte sich Evonik auf die Chemie konzentrieren. „Mein Ziel war es, aus der RAG ein strotznormales Unternehmen zu machen“, sagte Müller einmal. „Das heißt vor allem, ohne Subventionen auszukommen.“
BVB kündigte Gründung von Evonik auf dem Trikot an
Ziemlich am Anfang von Evonik stand ein Ausrufezeichen auf dem Trikot des Fußball-Bundesligisten Borussia Dortmund. Im Sommer 2006 war der Name Evonik noch nicht reif für die Öffentlichkeit. Nur ein sehr kleiner Kreis im Konzern kannte die neue Marke. Eine Saison lang trug die Mannschaft ein Trikot, auf dem ein grünes Ausrufezeichen zu sehen war. Erst mehr als ein Jahr später tauchte der Name Evonik auf, wenige Tage nach der Konzerngründung am 12. September 2007. Das Heimspiel gegen Bremen endete mit 3:0. „Wäre ja peinlich gewesen, wenn wir mit einer Niederlage begonnen hätten“, sagte Müller dazu später. Dem Verein blieb Müller später als Aufsichtsratsmitglied verbunden.
RAG-Stiftung ist Werner Müllers „Jahrhundertwerk“
Die Gründung der RAG-Stiftung sei ein „Jahrhundertwerk“, resümierte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, als er den von seiner schweren Erkrankung gezeichneten Müller im Frühjahr 2018 in der Düsseldorfer Staatskanzlei mit dem Landesverdienstorden auszeichnete. Dass Müller beim Kohleausstieg dafür Sorge getragen habe, dass „niemand ins Bergfreie“ falle, hob Laschet besonders hervor. Müller wiederum hielt sein prekärer Gesundheitszustand nicht davon ab, seine Situation mit dem ihm eigenen, leisen Humor zu beschreiben.
Als Müller im Februar 2018 seine Erkrankung öffentlich machte und seinen baldigen Rückzug ins Private ankündigte, hatte er erst kurz zuvor ein neues Büro bezogen – mit der schönen Adresse „Im Welterbe 10“ auf dem Essener Zollverein-Gelände. Zuvor befand sich sein Büro im Steag-Haus an der Rüttenscheider Straße. Das Ende des Untermieterdaseins schien Müller zu beflügeln. Aus seiner Stereoanlage tönte ausnahmsweise nicht Musik von Johann Sebastian Bach, sondern etwas Barockes von Jean-Philippe Rameau. Der im 17. Jahrhundert geborene französische Komponist gilt heute als Harmonie-Revolutionär. Auch Müller, der in jüngeren Jahren mit einer Karriere als Pianist geliebäugelt hatte, sich dann aber doch für einen Job in der Industrie entschied, überraschte gerne mit unkonventionellen Gedanken, die er stilvoll wie ein klassisches Klavierstück vortragen konnte.
Beim Umzug nach Zollverein noch voller Tatendrang – Bernd Tönjes übernimmt RAG-Stiftung
Beim Start in neuer Umgebung jedenfalls wirkte Müller voller Tatendrang. Das wichtige Jahr, in dem die beiden letzten deutschen Steinkohlenzechen schließen sollten, stand bevor. Als Chef der RAG-Stiftung sollte Müller die Rolle des Zeremonienmeisters übernehmen. Doch es kam bekanntlich anders.
Müllers Nachfolger als RAG-Stiftungschef, Bernd Tönjes, hat in Sichtweite zu Müller auf dem Zollverein-Areal gearbeitet. Unabhängig voneinander scherzten beide kurz nach dem Einzug noch über ihren Bürozuschnitt. Raumfragen sind bekanntlich Machtfragen. Aber in Müllers Büro, das Tönjes später übernahm, hing die Decke ein paar Zentimeter niedriger. Dabei war doch Müller noch als Vorsitzender des RAG-Aufsichtsrats der Chef von Tönjes.
Der Job des RAG-Stiftungschefs gehört zu den einflussreichsten Positionen der Ruhrwirtschaft. Als Evonik-Mehrheitsaktionärin mischt die Stiftung beim Chemiekonzern und BVB-Sponsor mit. Zudem ist sie am Wohnungsunternehmen Vivawest und an etlichen Mittelständlern beteiligt. Der Stiftungschef steht auch an der Spitze des Evonik-Aufsichtsrats und ist damit verantwortlich für die Besetzung des Vorstands. Aufgrund seiner Erkrankung hatte Müller die Ämter bereits vor vielen Monaten niedergelegt.
Evoniks Vorstandschef Kullmann: „Ohne ihn würde es Evonik überhaupt nicht geben“
„Ohne ihn würde es Evonik überhaupt nicht geben“, sagt Christian Kullmann, der Vorstandschef von Evonik, wenn er Müllers Verdienste würdigt. Kullmann gilt als Müllers Ziehsohn in der Firma. Als Müllers Stabschef war er Stufe für Stufe in der Evonik-Hierarchie aufgestiegen – Kommunikationschef, Generalbevollmächtigter, Vorstand, Konzernchef. Kullmanns Kontakt zu seinem Mentor Müller blieb auch nach Ausbruch der Erkrankung eng. Es ist davon auszugehen, dass der amtierende RAG-Stiftungschef Tönjes und Kullmann Müllers Vermächtnis bewahren und in die Zukunft tragen wollen.
„Es gibt eine einfache Regel“, sagte Müller einmal. „Du musst am Ende mehr Freunde als Feinde haben. Und die Freunde müssen einflussreicher sein.“ Im Dezember 2018, als Deutschlands letzte Steinkohlenzeche Prosper-Haniel in Bottrop den Betrieb beendete, stand Werner Müller in der ersten Reihe neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Danach zog sich Müller weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Es bleiben die vielen Spuren, die er hinterlässt.